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Unsere Vorfahren in Johannisburg

von Hans-Dietrich Lemmel
gedruckt in: "Johannisburger Heimatbrief" 2011 S.131-137. Selbstverlag Kreisgemeinschaft Johannisburg.

 
Unsere väterlichen Vorfahren waren durch viele Generationen immer Tischlermeister gewesen. Wie der erste von ihnen nach Johannisburg kam, das ist eine besondere Geschichte.

Im Juni 1730 gab August der Starke, König von Polen und Kurfürst von Sachsen, ein Fest zu Ehren des preußischen Königs Friedrich Wilhelm, und zwar auf einigen festlich hergerichteten Schiffen bei Belgern auf der Elbe. Am Ufer mussten die Belgerner Bürger zum Salutschießen antreten, "wobei aber der Tischler Samuel Lemmel den Ackersmann Fröber aus Unachtsamkeit durch einen Schuss in die linke Hälfte 2 1/2 Zoll tief hart verwundete. Wiewohl Fröber kuriert wurde, so musste der vielen Kur- und sonstigen Kosten wegen doch Lemmels Haus zum Zwangsverkauf gebracht werden." Damit war die Familie Lemmel ruiniert. Der 1739 geborene Friedrich Lemmel sah in Belgern kein Auskommen und ließ sich bei den preußischen Soldaten anwerben. Im Siebenjährigen Krieg marschierte er nach Ostpreußen gegen die Russen, und als der Krieg aus war, saß er mittellos in Masuren. Als Tischlergeselle verdingte er sich an verschiedenen Orten in der Gegend um Lötzen und Angerburg.  Noch 2017 fand man in einem der wenigen erhaltenen ostpreußischen Kirchenbüchern im Jahre 1770 in Dombrowken (nördlich von Angerburg) den Taufeintrag einer Tochter von Christian Friedrich Lemmel, Tischler in Launicken, und seiner Frau Eleonore Waschulle.
 
Die Waschulle sind eine altprussische Familie, von der man einen Zweig unter den Leibeigenen des Rittergutes Groß-Blaustein findet.
(►◄  Ergänzung 2017)

Schließlich lebte er als angesehener Tischlermeister in Lötzen, wo seine Söhne ebenfalls das Tischlerhandwerk erlernten. Ob sie von ihrer Mutter die prussische Sprache lernten, ist möglich aber nicht nachweisbar. Erhalten ist der Lehrbrief des ältesten Sohnes Friedrich vom 30.9.1795, unterschrieben von Georg Skopnik, Eltermann der Tischlerinnung, seinem Kumpan Michel Kuczewski und dem Raths-Beisitzer Friedrich Hahnrieder.
 
Der jüngste Sohn Gottlieb aber ging nach Johannisburg. Am 6.5.1805 beantragte der Magistrat der Stadt Johannisburg beim Kreisrat Becherer in der Kreisstadt Arys für den Tischlergesellen Gottlieb Lemmel (und einige andere) die Verleihung des Bürgerrechts. Diesem Antrag wurde am 14.5. entsprochen. Nachdem der "Kleinburger Lemel" am 1.6.1805 an Bürgerrechtsgeldern 2 Mark gezahlt hatte, konnte er am 5.6. heiraten, und zwar die Johanna Steinbach. Ihr Urgroßvater Michael Steinbach war 1690 aus dem sächsischen Annaberg nach Johannisburg gekommen, und ihr Großvater Steinbach hatte die Tochter des Johannisburger Bürgermeisters Christoph Hoffmann geheiratet und war dann selbst ein Ratsherr geworden.

Mein Onkel Erich Lemmel war in den 1920er Jahren Mitglied des Königsberger Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen. Er forschte in Johannisburg mit Hilfe von P.Wohlgemuth, der zusammen "mit dem Magistrats-Sekretär Schulz nach dem Archivraum stieg und dort unter dem Dachboden mehrere Stunden die planlos in Haufen liegenden Aktenstücke durchsuchte" - freilich mit geringem Erfolg, denn die wichtigsten Akten waren bereits an das Staatsarchiv in Königsberg abgegeben, wo mein Onkel sie dann sichten konnte. Wohlgemuth war Direktor der dortigen Landwirtschaftlichen Schule, von der ich den Briefkopf zeigen kann.

 
Im Rechnungsbuch des Johannisburger Magistrats fand man folgende Notiz: "36 Mark dem Tischler Lemmel und Klempner Scholl für Anfertigung von Büchsen und Wahlzeichen" in der Zeit Juni 1808 bis Februar 1809.

Der Tischlermeister Gottlieb Lemmel und Johanna Steinbach bekamen in Johannisburg drei Söhne und eine Tochter. Aber das Glück der Familie war nicht von Dauer. Am 17. August 1815, drei Monate nach der Geburt des jüngsten Sohnes, starb der Vater, und im Kirchenbuch wurde eingetragen: "Krankheit: den Hals abgeschnitten", ohne weitere Erläuterung. Es war die Zeit der Freiheitskriege, aber in Ostpreußen gab es in diesem Jahr keine Kämpfe mehr. So bleibt die Ursache des Unglücks unbekannt. Die Witwe heiratete den Johannisburger Tischlermeister Johann Casparini und sie bekamen einen Sohn, der aber blind und taubstumm war und das Unglück der Familie noch vermehrte. Er musste noch Jahrzehnte in einer Königsberger Irrenanstalt unterhalten werden, so dass Johanna, nun ein zweites Mal verwitwet, den Johannisburger Hausbesitz verkaufte und fortzog.

So gaben der Tischlermeister Gottlieb Lemmel und seine Familie nur ein kurzes Gastspiel in Johannisburg. Aber durch seine Heirat mit Johanna Steinbach hatte sich über die Schwiegermutter Hoffmann eine Verwandtschaft mit prominenten masurischen Familien ergeben. Der masurische Chronist Pisanski berichtete: "Die alte Johannisburger Kirche brannte 1694. Eine neue Fachwerkkirche wurde 1696 fertiggestellt. Der Fachwerk-Glockenturm wurde bereits 1737 wieder abgerissen und durch einen gemauerten Turm ersetzt, der 1739 fertig wurde." Das alles geschah zu der Zeit, als unser Vorfahr Christoph Hoffmann Bürgermeister von Johannisburg war und als sein Schwiegersohn, unser Vorfahr Gottfried Steinbach, 1728 als "Stadtältester" vereidigt wurde.

Als Bürgermeister und Ratsherr hatten beide ein modern anmutendes Problem zu lösen. Es ging um die "Koedukation", die damals freilich noch nicht so hieß. Pisanski berichtet hierüber: "In der Schule, die neben der Kirche auf dem Kirchhof stand, wurden vormals sowohl Knaben als Mädchen unterrichtet". Aber im Jahr 1726 sind letztere "dem Glöckner zur Unterweisung übergeben worden; und da es damit nicht gehörig von statten ging, ist 1731 eine besondere Mädchenschule angeleget, und ein studirter Lehrer dazu berufen worden".

Zu dieser Zeit hieß der Johannisburger Landschöppe Johann Sembritzki. Aus dieser Familie, deren Stammvater 1526 in der Gegend um Lyck und Treuburg beurkundet ist, stammte meine Mutter. Als Kuriosum ist zu vermelden, daß der Schweizer Krimi-Schriftsteller Peter Zeindler 1984 den aus Johannisburg stammenden BND-Agenten Konrad Sembritzki erfand, der als Held seines Thrillers "Die Ringe des Saturn" auftritt. Ein Fortsetzungsband erschien unter dem Titel "Schattenagent".
 
Pisanski berichtet weiter, dass sich in der Johannisburger Kirche drei Grüfte befanden: in der Halle nach Süden die Hoffmannsche Gruft, und gegenüber nach Norden die Steinbachsche Gruft. Dazwischen, vor dem Altar, befand sich die Maletiussche Gruft. Die alte Johannisburger Familie Maletius kommt in unserer Ahnentafel unter den Stiefahnen vor.

  
Im Sommer 1959 war ich als junger Student in Johannisburg, als noch kaum jemand aus Westdeutschland nach Ostpreußen reisen konnte. Von dieser Reise stammen die beigefügten Fotografien der Johannisburger Kirche. Da ich damals nichts von den Grüften meiner Vorfahren Hoffmann und Steinbach wusste, hatte ich keine Veranlassung zu erkunden, ob von diesen Grüften noch etwas zu sehen ist, etwa eine Inschrift auf einer Grabplatte.

Der Johannisburger Bürgermeister Christoph Hoffmann war mit einer Tochter Baginski verheiratet. Die Baginskis waren eine der ältesten masurischen Familien, aus der in Johannisburg Landschöffen und Pfarrer stammten. Sie waren mehrfach mit der ostpreußischen Pfarrer-Familie Hoffmann verschwägert, so dass sie sich schließlich "v.Baginski genannt Hoffmann" und gelegentlich auch nur "Hoffmann" nannten. Vor Jahrzehnten meinte man, dass aus dieser Familie der Dichter E.T.A. Hoffmann stammte. Noch in einer neueren Biografie heißt es, dass E.T.A. Hoffmanns Familie "altem polnischen Adel, dem Hause Bagiensky" entstamme. Das ist ein Irrtum, wie ich in der Zeitschrift "Genealogie" (Band 25, 2001, S.545-556) zeigen konnte. E.T.A. Hoffmann entstammt einer der ältesten lutherischen Pfarrerfamilien Ostpreußens, deren Stammvater Peter Hoffmann schon kurz nach der Reformation aus dem Coburgischen nach Ostpreußen kam, und zwar nach Preußisch Holland. Unter seinen zahlreichen Söhnen und Enkeln sind etliche Pfarrer, von denen einige in der Kirchenverwaltung in Königsberg als Konsistorial-Sekretäre gewirkt haben. Zu den Nachkommen gehören sowohl der Johannisburger Bürgermeister Christoph Hoffmann, als auch der Dichter E.T.A. Hoffmann, jedoch in zwei verschiedenen Familienzweigen, die beide wiederum mit der Johannisburger Familie Baginski verschwägert sind. Diese Zusammenhänge sind in der beigefügten Tafel dargestellt.
┌──────────────────────────────────────────────────────────────────┐
│         Peter Hoffmann, *?1480 Rodach-Rotha/Coburg               │
│         ev.Pfarrer, ab 1529 in Preußisch Holland                 │
│          ┌──────────────────┴─────┬───────────┐                  │
│       Martin                      │           │                  │
│       Hoffmann                    │           │                  │
│       *1513                     Georg         │                  │
│       Pfarrer in                Hoffmann      │                  │
│     Johannisburg                *1523      Friedrich             │
│     u.Neidenburg       Jan      Pfarrer    Hoffmann              │
│   ┌──────┴───┐        Baginski  Pr.Eylau   *?1532 Pr.Holland     │
│Michael    AnnaMaria   *?1535      │        Pfarrer               │
│Hoffmann   Hoffmann  Landschöffe Thomas     Kons.Sekr.Königsberg  │
│*?1546     *?1544    Johannisbg. Hoffmann      │                  │
│Neidenburg    │      ∞2)││∞1)    *?1550     Johann                │
│   │          └─────────┘│       Rektor     Hoffmann              │
│   │                     │       Pr.Eylau   *?1562 Neumark        │
│   │                   Simon       │        bei Preuß.Holland     │
│Martin                 Baginski  Daniel     Kons.Sekr.Königsberg  │
│Hoffmann               *?1572    Hoffmann      │                  │
│*?1576                 Pfarrer   *?1576     Friedrich             │
│Neidenburg    Margar.  Kumilsko  Pfarrer    Hoffmann              │
│   │          Maletius bei Jo-   Locken     *?1590 Königsberg     │
│   │          *?1590   hannisbg.   │        Kons.Sekr.Königsberg  │
│   │             │   ∞1)││       Tochter       │                  │
│Johannes         └──────┘│       Hoffmann      │                  │
│Hoffmann                 │∞2)    *?1605     Joh.Friedrich         │
│*?1615                   ├─────────┘        Hoffmann              │
│Neidenburg             Albert               *1621 Königsberg      │
│   │                  Baginski              Kons.Sekr.Königsberg  │
│Martin             gen.Hoffmann     ┌──────────┤                  │
│Hoffmann               *1634     Anna Dor.     │                  │
│*?1645                Pfarrer    Hoffmann   Friedrich             │
│Landschöppe        Johannisburg  *?1650     Hoffmann              │
│Johannisburg         ∞1)││          │       *?1653 Königsberg     │
│   │               ┌────┘│          │       1669-1680 Univ.Kbg.   │
│   │         Simon,*1658 │∞2)       │       (in Lomp bei Neumark?)│
│   │         Hoffmann-B. └────┬─────┘          │                  │
│   │       Pfarrer Joh'bg     │                │                  │
│Christoph                     │             Petrus                │
│Hoffmann               Katharina Elisab.    Hoffmann              │
│*1674                  Hoffmann-Baginski    *1676 in Lomp         │
│Bürgermeister               *?1678          Pfarrer in Neumark    │
│Johannisburg  ∞1)             │                │                  │
│∞2)│└──────────────────┬──────┘             Friedrich Christoph   │
│   │                Maria Hoffmann          Hoffmann              │
│   │                *1702                   *1708 Neumark         │
│Daniel Friedr.    ∞ Gottfried Steinbach     Pfarrer in Neumark    │
│Hoffmann          Ratsherr Johannisburg        │                  │
│*1724 Johbg.           │                    Christoph Ludwig      │
│Pfarrer in          Carl Steinbach          Hoffmann              │
│Mohrungen           *1742                   *1736 Neumark         │
│                    Johannisburg            Jurist in Königsberg  │
│                       │                    und Insterburg        │
│                       │                       │                  │
│                Johanna Steinbach, *1782    E.T.A.Hoffmann        │
│                ∞ Gottlieb Lemmel           * 24.1.1776 Königsberg│
│                (Vorfahren des Autors)      † 25.6.1822 Berlin    │
└──────────────────────────────────────────────────────────────────┘

Urkundlich gesichert ist E.T.A. Hoffmanns Urgroßvater Petrus Hoffmann, der 1676 in Lomp bei Neumark in der Gegend von Pr.Holland geboren wurde. Dessen Vater ist vermutlich Friedrich Hoffmann aus dem Königsberger Zweig der Familie, der schon früher in Neumark ansässig gewesen war. Dieser Friedrich Hoffmann ist ein Schwager des Johannisburger Pfarrers Albert Baginski gen.Hoffmann. Letzteren hatte man früher irrtümlich als Vorfahren von E.T.A. Hoffmann angesehen.

(Einzelheiten zu den genannten masurischen Familien findet man im Internet unter http://geneal.lemmel.at/StammtafelnOpr.html )

Anhang:
Ein zufällig erhaltener Zeitungsausschnitt der Königsberger Allgemeinen Zeitung 1929
Johannisburg, die Stadt im Herzen Masurens


Die Rückseite dieses Zeitungsstücks:


┌─┴─┘├─┼─┤└─┬─┐∞│†═ëç▲▼ 8.3.2012