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U n s e r e F l u c h t a u s T h o r n
oder: Wie wir der Rache Stalins für die Verbrechen der Nazis entkamen
von Hans-Dietrich Lemmel, 1995, ergänzt 12.4.2013
Gedruckt in "Thorner
Nachrichten" Nr.54, 2015, S.30-39. Seither geringfügig ergänzt.
Unsere Familie, Eltern und vier Söhne, lebte bis 1945 in Thorn, wo
mein Vater, Dr. Gerhard Lemmel, Chefarzt der Thorner
Krankenanstalten war. Unsere Flucht begann am 17. Januar 1945, als die
Russen südlich von Thorn schon weit Richtung Berlin vorgestoßen waren. Vorher
abzureisen war unmöglich. Das wäre "Feigheit vor dem Feind" und
"Wehrkraftzersetzung" gewesen. Man brauchte in dieser Zeit für jede
Reise eine Genehmigung. So durfte auch der zunächst zurückgebliebene Vater,
obgleich schon völliges Chaos herrschte, nur abreisen aufgrund der Bescheinigung,
dass er seinem bereits ausgelagerten Krankenhaus nachreiste, für das er eine
Kriegsdienst-Verpflichtung hatte.
Die Sammlung unserer Flucht-Dokumente beginnt mit
dem Zettel "Eigentum von Dr. Gerhard Lemmel ..." Der klebte in Thorn an jedem
Möbelstück und jedem Karton oder Koffer, Bügeleisen oder Putzeimer. Die Polen,
die nach unserer Flucht hier eindrangen, werden sich gefreut haben. Sie hatten
aber wohl nicht viel davon. Denn wie ich bei einem späteren Besuch in Thorn erfuhr,
machten die Russen keinen Unterschied zwischen Polen und Deutschen: sie
plünderten alles. Was immer sich wegschleppen ließ, wurde weggeschleppt und am
Bahnhof oder in den russisch gewordenen Kasernen gestapelt, zumeist unter
freiem Himmel. Dort verrottete vieles, da es keine Güterwagen für den
Transport Richtung Russland gab. Ranghohe Russen werden sich einiges
abtransportiert haben, und anderes holten sich die Polen von den Russen
zurück.
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Dieser Zettel, der uns heute etwas komisch
anmutet, basiert auf Vaters Erfahrungen nach dem ersten Weltkrieg, als die
Familie aus Posen fliehen musste. Da gab es, nachdem Posen 1919 polnisch
geworden war, noch einen geregelten Umzug von Posen nach Königsberg. Ähnliches
mag er für Thorn erwartet haben. Auf besagtem Zettel standen unter den nächsten
Angehörigen erst drei Söhne. Der vierte, Andreas, wurde erst im Dezember 1944 geboren. Da
es noch keine Kopiergeräte gab, waren alle diese Zettel mit
Kohlepapier-Durchschlägen getippt. Selbst bei zehn Durchschlägen musste es also
unzählige Male getippt werden. Ähnliche Zettel wurden sogar in die
Zeitschriften geklebt, die Vater in seinem Wartezimmer aufliegen hatte, mit dem
Zusatz: "Ich stelle das Heft zum Lesen und Besehen zur Verfügung und bitte
um Rückgabe in friedlicheren Zeiten."
Im Sommer
und Herbst 1944 tippte Vater auch seine
sämtlichen Familienforschungs-Ergebnisse mit sechs
Durchschlägen ab. (Die Vorfahren hatten alle in Ostpreußen,
Danzig, und teils schon um 1500 in Thorn gelebt.) Die
Urkunden-Abschriften ließ er von der Krankenhausverwaltung mit
Stempel und
Unterschrift beglaubigen, alle sechs Durchschläge, und schickte
sie an sechs
verschiedene "sichere" Adressen, oder was man von Thorn aus als
"sicher" ansah: Dass Thorn polnisch werden würde, wusste man; aber
unter den Adressen waren auch welche in Königsberg und in
Schlesien, denn es
kam niemand auf die Idee, dass auch von hier die Deutschen vertrieben
werden
würden. Einige der Briefempfänger wurden ausgebombt. Andere
Auslagerungs-Orte waren
in der späteren russischen Zone (DDR), von wo die
Briefempfänger ebenfalls
unter Zurücklassung ihrer Habe flüchteten, so dass von den
Familienurkunden-Abschriften
zum Schluss nur ein einziger Satz erhalten blieb.
Einige Hausratssachen, die wir später zurück
bekamen, waren an Verwandte geschickt worden, die in Hannover im Oktober 1943
ausgebombt worden waren. Das war insbesondere das Geschirr "Maria
weiß" von Rosenthal, wovon wir jetzt noch einige leicht grau gewordene
Teller haben, die aus Königsberg stammen. Auch einiges Besteck und einige
Kinderbücher waren an die ausgebombten Verwandten geschickt worden und kehrten
dadurch in unseren Besitz zurück. Aber der gesamte Thorner Hausrat war verloren, bis auf ein Buch: Mehr als 60 Jahre später tauchte ein Buch aus
Vaters Bibliothek im Thorner Antiquariat auf, wo ein befreundeter polnischer Arzt es
entdeckte und uns zukommen ließ.
* * *
Also, am
17. Januar, so nachmittags um halb vier,
bei anbrechender Dämmerung, kam der Telefonanruf, dass es losging.
Der
Räumungsbefehl für Thorn war gegeben worden. Der Spielfreund Rudi Linke,
der gerade zu Besuch da war (Sohn des Krankenhaus-Verwalters), wurde sofort nach
Hause geschickt. Wir hatten
ohnehin schon das
Wichtigste gepackt, und die Fluchtkoffer standen bereit. Aber nun gab
es doch
noch in Eile allerlei einzupacken, und wir mussten uns umziehen, die
besten und
wärmsten Sachen für die Flucht anziehen, und wir bekamen noch
allerlei zu
essen. Einige Vorräte wie Lebkuchen und Eier, die bei der
unsicheren Ernährungslage wertvolle Schätze waren, wurden
freigegeben. Tante Hilda beschäftigte den 2-jährigen Arnold
mit Vorlesen, und ich besinne mich, dass ich (8-jährig) mit einem gepackten
Rucksack auf dem Rücken von einem Zimmer zum anderen das
Marschieren übte, weil ich mir so die Flucht vorstellte.
Am Abend
ging es den 10-Minuten-Weg zu Fuß zum Thorner
Krankenhaus. Wie wir das Gepäck hinüber bekamen, weiß
ich nicht mehr. Es
war eiskalter Winter mit einer geschlossenen Schneedecke. Zunächst
sollte es nur
nach Bromberg ans Westufer der Weichsel gehen, um der befürchteten
Zerstörung
der Weichselbrücken zuvorzukommen. Im Thorner Krankenhaus
saßen wir lange in einem Behandlungszimmer und mussten warten.
Erst nach Mitternacht erschien ein Bus mit einem dunklen Anhänger,
in den Ernst-Martin und ich hineingesteckt wurden, wo wir auf Matratzen
zwischen Vorratsgefäßen saßen. Im Dunkeln gings die 40
Kilometer zur Bromberger Weichselbrücke, und alsbald hielt der Bus
vor dem Bromberger Krankenhaus, nachts um drei. Es war tiefste
Finsternis, denn wegen der Bombengefahr gab es ja keinerlei
Beleuchtung. Plötzlich gab es eine große Aufregung: Der
Doktor Lemmel sei im Dunkeln in eine tiefe Baugrube gestürzt.
Es stellte sich aber heraus, dass ihm nichts Ernstliches passiert war. Im Krankenhaus kamen wir in einen
großen Raum voller Gepäckstücke und schlafender Menschen, jedoch wurde unsere Familie
in einem separaten Raum untergebracht, wo wir auf Untersuchungsbetten erst mal
schlafen konnten. Am nächsten Morgen besichtigten wir die Unglücksstelle. Gleich
neben dem Krankenhaus-Eingang gab es eine tiefe Ausschachtung für einen Neubau,
und im Schnee und Sand gab es deutliche Spuren vom nächtlichen Sturz unseres Vaters. Der
Boden war hart gefroren, aber unten in der etliche Meter tiefen Grube war genug
Schnee, so dass ihm bei dem Sturz nichts Schlimmes passiert war. Aus eigener
Kraft kam er aber im Dunkeln nicht aus der Baustelle heraus, so dass er um
Hilfe rufen musste. Wir hatten grausige Vorstellungen im Kopf: Bei einem
Knochenbruch hätte er mit den Schwerstkranken zurückbleiben müssen, und von
denen hat wohl kaum einer den Russen-Einmarsch überlebt.
Im Krankenhaus sahen wir
Patienten mit verbrannter Gesichtshaut. Es hieß, dass ihnen beim Löschen nach
einem Luftangriff in der Hitze die Gasmaske auf dem Gesicht geschmolzen sei. Glücklicherweise
lud uns die Bromberger Oberin ein, in ihre Wohnung umzuziehen. Hier blieben wir einige Tage, ungeduldig,
wann es
wohl weitergehen würde. Einiges von unseren Sachen, die bis
hierher mitgekommen
waren, mussten wir hier
zurücklassen, und selbst
ein großer Teddybär, der in einem Kleiderschrank des
Bromberger Krankenhauses
zurückblieb, bekam ein Schild um den Hals gehängt: "Eigentum
von Dr.
Gerhard Lemmel .... Nächste Angehörige:....".
Am 21. Januar, zwei Tage vor Vaters 43.
Geburtstag, wurden wir in einen von drei Omnibussen gesteckt: Mutter (40),
Ernst-Martin (9), Hans-Dietrich (ich, 8), Arnold (2), Andreas (einen Monat alt)
und Großtante Hilda (78), die von Arnold "Tante Hillala" genannt
wurde, unsere "dritte Großmutter". Der Vater musste mit einem
"Sondereinsatzbefehl" zurückbleiben. Wir waren einem
Krankenhaus-Transport mit transportfähigen Patienten und einigen
Krankenschwestern zugeteilt worden. Und für diesen Transport gab es sogar
Benzin. In Thorn fuhren Lastwagen und Omnibusse schon seit langem mit
"Holzvergasern": Auf den Lastwagen stand hintendrauf ein Ofen, der
mit Holzbefeuerung ein Gas erzeugte, das den Motor mit viel Gestank und Rauch
antrieb. Die Linien-Busse zogen einen großen zweirädrigen Anhänger hinter sich her, in
dem ein Holzgas-Drucktank war.
Wir
saßen also in einem von drei Benzin-Bussen.
Ernst-Martin und ich hockten sehr bequem auf einem Kasten, unter dem
sich der Motor befand, von wo aus wir vorne rauskucken konnten. Es war
ein tief verschneiter, lausig kalter
Winter, ein gewölbter Straßendamm mit tiefen Gräben und
Obstbäumen rechts und
links, und der Busfahrer musste auf dem Glatteis oder beim
Überholen von
Pferdewagen scharf am Straßengraben entlang balancieren. Ich fand
das spannend,
aber die Großen waren wohl in allen Ängsten, zumal es auch
verlassene, in den
Graben gerutschte Fahrzeuge gab. Plötzlich war die Verbindung zu
dem hinter uns fahrenden Bus abgerissen. Man fürchtete, er sei von der
Straße gerutscht, aber nach einiger Zeit tauchte er wieder auf. Auf
einem Acker neben der Straße lagen drei Jagdflugzeuge, die hier
wohl eine Bruchlandung gemacht hatten. Voran fuhr in einem
Mercedes-PKW der Doktor
Schretzenmeyer, der den Transport leitete. Er hatte wohl gute
Beziehungen zu
höheren Nazistellen, so dass er sich als Transportleiter in den
Westen absetzen
durfte, während unser Vater zurückbleiben musste.
Auf dem Glatteis schafften die drei Busse an
diesem Tag nur 100 Kilometer. Abends in der Dunkelheit kamen wir in Preußisch
Stargard an, wo wir in einer Irrenanstalt untergebracht wurden. Pr.Stargard
liegt 40 Kilometer südlich von Danzig, und man stellte nun mit Schrecken fest,
dass wir von Bromberg nicht nach Westen sondern nach Norden gefahren waren. Es
sprach sich herum, dass die Russen, die mit ihrem Vormarsch Richtung Berlin
schon an der Oder standen, nun nach Norden drängten und uns abzuschneiden
drohten, so dass wir, wenn überhaupt, nur noch an der pommerschen Ostseeküste
entlang entkommen konnten. Von dieser Situation erfuhr ich erst später, als ich
älter war, aber ich erinnere mich an die allgemeine Aufregung.
Die
Räume der Irrenanstalt waren mit mehr oder
weniger kranken Flüchtlingen angefüllt. In einem
größeren Saal bekamen wir ein Stück Fußboden als
Notlager. Unweit befand sich das Bett einer schrecklich
stöhnenden Frau, die
nach einem Unfall Knochenbrüche hatte und von einem jungen
Mädchen, wohl ihrer
Tochter, betreut wurde. Mitten in dem Massenlager saß der
2-jährige Arnold auf seinem Nachtstopf und machte sich in einem
unbeobachteten Moment über die Nivea-Dose her, die ein wesentliches Utensil für
das Wohlergehen des kleinen Andreas war, und schmierte sich den Doseninhalt an Gesicht
und andere Körperteile. Unsere Mutter meisterte die Situation, indem sie Arnold
auf den Arm nahm und ihn im Saal herumreichte: jeder durfte sich etwas
von Arnolds Nivea auf eigene Körperteile übertragen.
Es sprach sich herum, dass von den drei Bussen
wegen Benzinmangels nur noch einer weiterfahren würde. Das bedeutete, dass wir
nun noch mehr unserer geringen Habseligkeiten zurücklassen mussten. So breitete
Mutter alles auf einem Bett aus, um das Wichtigste zusammen zu suchen, und mit
manchen Dingen konnte sie andere Menschen glücklich machen, die zum Teil aus
ihren Krankenhausbetten ohne irgend welche Kleidungsstücke abtransportiert
worden waren. So fanden besonders Schuhe und eine Jacke dankbare Abnehmer.
Um doch noch möglichst viel mitnehmen zu können, zog man Unterwäsche und Kleidung doppelt und
dreifach an, was den Nebeneffekt hatte, dass man gegen den strengen Frost und
eiskalten Wind geschützt war. Der Transportleiter stand an der Bustür und nahm
mit erschreckender, aber doch verständlicher Brutalität jedem einzelnen alles
ab, was er als zu viel ansah. Ein großer Kofferstapel blieb im Schnee zurück.
Dort landeten auch zwei
Decken und ein Federbett von uns, die trotz des eindringlichen Hinweises, dass man sich ja
draufsetzen könnte, zurück gelassen werden mussten. Ernst-Martin und ich hatten nur jeder einen kleinen Kinderrucksack. An dem
einen hing Arnolds Nachtstopf, und der wurde abgeschnallt und auf den
Gepäckstapel geworfen. In einem unbewachten Augenblick aber kletterte
Ernst-Martin, die Wichtigkeit dieses Topfes begreifend, nochmal aus dem Bus und
holte ihn zurück. Das stellte sich später als eine bedeutende Tat heraus, wie
der Leser noch sehen wird. Das schlimmste aber war, dass der Kinderwagen, in
dem Andreas bisher recht bequem gereist war, inklusive eines Vorrats an
Wickel-Utensilien, zurückblieb.
An diese Fahrt habe ich nur die Erinnerung, dass
ich im Bus in einem dichten Menschengedränge stand. Wir kamen nur 70 Kilometer
weit bis Bütow. Da waren Benzin und Busreise zu Ende. Es war der 23. Januar,
Vaters Geburtstag.
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Bütow
liegt im Ostzipfel von Pommern. Man war
erleichtert, jetzt wenigstens aus dem "Korridor" herauszusein; der
"Korridor", das war Westpreußen, das schon 1919 polnisch geworden
war
und nun sicher wieder polnisch werden würde. Für die Nacht
wurden wir im
Bütower Krankenhaus, einem hohen, dunklen Backsteinbau,
untergebracht. In einem
großen Speisesaal mit weißen Tischtüchern bekamen wir
zu essen. Zum Schlafen wurden wir in Zimmer verteilt, in denen schon
andere Flüchtlinge waren. Im Keller gab es Räume, in denen
sich zurück gelassenes Fluchtgepäck bis zur Decke türmte.
Der Krankenhaus-Transport wurde nun aufgelöst.
Bevor der Transportleiter Dr. Schretzenmeyer mit seinem voll bepackten Mercedes
nach Westen davonfuhr, erhielten wir noch eine von ihm ausgestellte
Bescheinigung, dass wir zu dem nunmehr aufgelösten Krankenhaustransport gehört
hatten.
Jetzt
musste unsere Mutter selbst sehen, wie sie mit den vier Kindern und der
Tante Hillala weiterkam. Eine mitreisende Thorner Nachbarin, die
Frau des Molkerei-Verwalters Koch musste zurückbleiben, weil
sie in den nächsten Tagen ein Kind erwartete. Wir wissen nicht,
was aus ihr geworden ist.
Auf uns allein gestellt, gingen wir am Morgen des
24. Januar zum Bahnhof, zwischen gewaltigen Betonklötzen hindurch,
die als Panzersperren aufgebaut waren. Wir hatten nun kein Gepäck
mehr, nur der kleine Andreas
musste getragen werden. Was wir am Leibe trugen, war alles. Mutter
hatte als Gürtel eine elektrische Verlängerungsschnur
mehrmals um den Leib gewickelt, und daran waren einige wichtige
Sachen aufgehängt. Es war freilich nur der Bahnhof einer kleinen
Nebenstrecke. Doch gab es tatsächlich einen Zug, der uns zusammen mit etlichen
anderen aus dem Thorner Transport in einem Gepäckwagen ohne Bänke 60 Kilometer weiter
Richtung Westen brachte, bis Schlawe. Das lag an der wichtigen Eisenbahnstrecke
von Danzig nach Stettin. Aber es war völlig offen, ob wir hier weiterkommen
würden.
In Schlawe
wurden wir in einem Massenlager in der
Turnhalle einer Schule untergebracht, wo wir einige Quadratmeter
Fußboden und
eine Matratze bekamen. Mehrmals gingen wir zum Bahnhof, um zu erkunden,
ob es
einen Zug geben würde. Es war strenger Frost und Schnee und
Sonnenschein. In
der Nacht gab es Fliegeralarm, und wir mussten in den Luftschutzkeller
der
Schule, wo wir mit fremden Leuten dicht gedrängt auf Bänken hockten. Auf den
Wasserrohren über uns sah
man im Dunkeln Ratten entlanghuschen. Es wurden Geschichten
erzählt, dass
hungrige Ratten kleine Kinder anknabbern, und wir mussten auf die
schlafenden
Arnold und Andreas aufpassen. Vor Übermüdung pinkelte ich in
die Hose. Das
Problem dabei war, dass ich alle Kleidungsstücke, die ich
besaß, anhatte. Da
die Schule kaum geheizt war, und da man damit rechnen musste, sehr
plötzlich
zum Bahnhof zu müssen, sobald da ein Zug auftauchte, behielten wir
alles an. Ich wurde ausgezogen, und Mutter bahnte sich mit meinen
nassen Sachen über die schlafenden Menschen hinweg einen Weg nach
draußen, wo sie durch die eiskalte Nacht zu einem
überfüllten Toilettenhäuschen kam, wo die Leute Schlange
standen und drängelten. Immerhin gab es hier Wasser zum Waschen und
einen glühend heißen Ofen, so dass ich dann am nächsten
Morgen wieder trockene Sachen anhatte.
Schon am Nachmittag des folgenden Tages gab es
einen Zug! Aber zwischen den brutal
drängenden Menschen gab es für die Mutter mit vier Kindern keine Möglichkeit, auch nur in die Nähe
des Zuges zu gelangen, so dass es aussichtslos schien, hinein zu kommen. Unerwartete Hilfe
kam von einem unbekannten Soldaten. Er sah uns, lief den ganzen Zug entlang und
rief: "Hier ist noch eine Mutter mit vier kleinen Kindern!", und das
hatte Erfolg. Wir kamen in ein schon ziemlich volles Abteil hinein. Es war ein Wagen mit Seitengang und Schiebetüren zu den Abteilen.
Die beiden Holzbänke waren dicht gedrängt besetzt, und es standen Leute im Gang
und im Abteil; einige wechselten sich mit Sitzen und Stehen ab. Im Abteil war
es zwar nicht geheizt, aber im Gedränge wärmte man sich einigermaßen
gegenseitig. Die Fenster waren dick vereist und man musste sich mit Hauchen und
Kratzen ein Stückchen Fenster freilegen, um hinauszuschauen: tiefster weißer
Winter.
Es waren noch etwa 200 Kilometer bis zur
Stettiner Oderbrücke, aber die Fahrt ging nur langsam voran. Immer wieder
hielt der Zug vor einem Signal oder auch auf freier Strecke. Nachts schlief ich
auf dem eiskalten Fußboden zwischen den Füßen der sitzend Schlafenden, von
denen ich ständig Fußtritte bekam, sobald sie sich im Schlaf bewegten, zum Klo
mussten oder mit einem, der im Gang stand, den Platz tauschten. Der kleine Andreas
hatte es am besten: er lag oben im Gepäcknetz, und er wurde gestillt. Wer im Sitzen schlief, hängte seinen Kopf in die
Schlinge eines Schals, der am Gepäcknetz befestigt war.
Dennoch habe ich die
Fahrt in guter Erinnerung. Um sich die Zeit zu vertreiben, wurde stundenlang
erzählt, und abends im Dunkeln wurde gesungen. Mutter und eine fremde Frau
Bartsch sangen zweistimmig. Tante Hilda erheiterte das Abteil durch lautes
Schnarchen, bezeichnete das aber, als man ihr das erzählte, als eine Zumutung. Die
Dunkelheit setzte früh am Nachmittag ein, und man durfte überhaupt kein Licht
anmachen, denn das hätte ein Ziel für feindliche Tiefflieger ergeben.
Zu den Nachbarabteilen
ergab sich ein reger Verkehr, indem unser Nachtstopf immer wieder ausgeliehen
wurde. Wir gehörten zu den wenigen Glücklichen, die überhaupt ein Gefäß
besaßen. Auf einem Bahnhof gab es von der "NSV",
der "Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt", heiße Eintopfsuppe.
Hier rettete uns besagter Nachtstopf, der, bei jedem Zughalt mit Schnee
ausgewaschen, nun mit Suppe voll gefüllt im Abteil reihum ging, so dass alle
richtig warm und satt wurden. Ohne diesen Topf hätten wir allenfalls die eine
oder andere kleine Tasse voll Suppe bekommen.
Einmal,
als der Zug auf freier Strecke stand, fuhr
auf dem Nebengleis ein Militärzug Richtung Osten. Er fuhr nur
langsam, so dass
man sich durch das offene Fenster etwas zurufen konnte, mit dem
Ergebnis, dass
die Soldaten uns Brote herüberwarfen, kastenförmige
"Kommißbrote".
Wir hatten keines abbekommen, aber eins war zwischen den Gleisen in den
Schnee
gefallen. Der 9-jährige Ernst-Martin drängte sich den Zuggang
entlang, sprang
hinunter in den Schnee und holte sich das Brot.Vom nächsten Waggon
war auch jemand abgesprungen, um das Brot zu ergattern, aber
Ernst-Martin war der Sieger. Da fuhr unser Zug ab, und nur
mit Mühe konnte er noch das Trittbrett erreichen und sich von
hilfreichen
Händen wieder in den Zug hinaufziehen lassen, ohne dabei das Brot
zu verlieren.
Wir im Abteil hatten aber keine Ahnung, ob er noch mitgekommen oder
zurückgeblieben war, bis er stolz mit dem Brot in der
Abteiltür auftauchte. Er
war der Held des Tages.
Dann blieb der Zug auf freier Strecke stehen. Nach
einiger Wartezeit sprach es sich herum, dass die Lokomotive allein
weitergefahren war. Es hiess, die Kohlen hätten nicht mehr gereicht, und sie
würde mit Kohlen zurückkommen. Würde sie das? Es war eine schreckliche
Ungewissheit. Rasch wurde es lausig kalt im Zug und die Fenster vereisten
völlig. Natürlich gab es nachts kein Licht. In der Abenddämmerung rief
jemand, es sei Tiefflieger-Alarm, und wir sollten aussteigen und uns im Gelände
verteilen. Aber da hörte man schon das Heulen der Tiefflieger und gleich darauf
die peitschenden Schüsse. Kurz darauf das selbe noch einmal. Dann war tiefe
Stille. Als der Schrecken nachließ, fing man an zu debattieren, ob man besser
in den Wald flüchten sollte, aber die Tiefflieger kamen nicht wieder. Man
wusste, dass Züge, nicht nur Militär- sondern auch Zivilzüge, von Tieffliegern
völlig zerschossen worden waren, und alle waren in großer Angst. Unser Zug
wurde aber nicht getroffen. Womöglich hatten sie den Zug, der ohne Lokomotive
dastand, für bereits zerstört angesehen.
In der Ferne war nun Kanonendonner zu hören. Erst
später erfuhren wir, dass hier die russische Armee den Durchbruch zur
Ostseeküste erkämpfte, und dass unser Zug der allerletzte war, der noch durchkam.
Niemand wusste, wo genau wir uns befanden, wie weit die nächste Straße war, und
ob es Sinn hatte, den Zug zu verlassen, um zu Fuß weiterzukommen. Am nächsten
Tag geschah das kaum noch erwartete Wunder: die Lokomotive tauchte, mit Kohlen
beladen, wieder auf.
Ohne
weitere Unterbrechung kamen wir nach Stettin.
Hier sah ich zum ersten Mal eine zerstörte Stadt. Langsam fuhr der
Zug durch
verschneite Ruinen. Wir waren nicht sicher, ob und wie wir über
die Oder
hinüberkommen würden. Aber die Oderbrücke war repariert,
der Zug fuhr langsam
über die Brücke und hielt kurz darauf im Stettiner
Hauptbahnhof. Hier blieb er lange stehen, und niemand wusste, ob und
wann er weiter fahren würde und wohin. Soldaten liefen am Zug
entlang, und plötzlich kam ein Soldat hektisch zu uns ins Abteil und
bat, sich in die Ecke setzen zu dürfen. Er verschwand sofort
hinter einem dort hängenden Mantel und schien sofort fest
einzuschlafen. Kurz darauf kamen Offiziere durch den Zug und schauten
in die Abteile. Offenbar suchten sie desertierte Soldaten, fanden aber
nicht den, der sich bei uns versteckt hatte. Wäre er entdeckt
worden, hätte er, selbst in dieser Zeit des Zusammenbruches noch, wegen
Fahnenflucht mit Erschießen rechnen müssen.
Dann rief jemand auf dem Bahnsteig, es würde gleich ein Zug nach
Berlin abfahren. Wir beschlossen, schleunigst umzusteigen. Tante
Hillala stieg aus, und wir brachten unsere Sachen an die Tür, um
sie ihr hinauszureichen. Doch gerade als Ernst-Martin ihr ein
Stück hinunter reichte, er stand schon auf dem Trittbrett, setzte
sich der Zug wieder in Bewegung. Ernst-Martin schaffte es gerade noch
zurück in den Zug, aber Tante Hillala war draußen. Wir
schauten aus dem Fenster und sahen sie einsam auf dem Bahnsteig immer
kleiner werden. Für uns war es ein großer Schreck, und es war das zweite Mal, dass Ernst-Martin beinah
verloren gegangen wäre.
Als der Zug abgefahren war,
kam der desertierte Soldat aus seinem Mantelversteck hervor. Er wollte zu
seiner ausgebombten Familie und war uns in der nächsten Stunde ein
unterhaltsamer Reisebegleiter. Der Zug fuhr Richtung Berlin. Dahin wollten
wir unter gar keinen Umständen, wegen der ständigen Luftangriffe. Tante
Hillala, die, wie wir später erfuhren, mit einem anderen Zug nach Berlin
gelangte, fand dort nur noch ihre zerstörte Wohnung vor, und auch die
"Omama Berlin", zu der wir hätten reisen können, wurde in diesen
Tagen ausgebombt.
An der
Berliner Strecke lag Eberswalde, wo Vaters
Vetter, der Forstprofessor Hans Lemmel, lebte, mit Frau Mira und vier
Kindern,
die etliche Jahre älter als wir waren. Wir stiegen also in
Eberswalde aus und
riefen vom Bahnhof die Verwandten an: "Wir sind da!" Bei Kälte und
Schnee war es nur ein kurzer Fußweg zum so genannten
"Sonnenhaus",
einer schönen alten Villa, in der die Forst-Lemmels wohnten und
uns herzlich
aufnahmen. Anwesend waren aber nur Tante Mira und die beiden
Töchter. Die beiden Söhne waren im Kriegseinsatz, und es war
ungewiss, ob sie noch
lebten. Tante Mira versorgte als Krankenschwester am Bahnhof die
eintreffenden
verwundeten Soldaten. Der Vater tauchte gelegentlich zu einer Mahlzeit
auf. Ich weiß nicht, was für einen Kriegseinsatz er hatte.
Äußerlich war in Eberswalde vom Krieg noch nichts
zu merken. Es war der 27. Januar, zehn Tage nach unserer Abreise aus Thorn.
Hier konnten wir drei Wochen lang Durchfälle und Grippe auskurieren, bis wir
die Flucht weiter Richtung Lüneburger Heide fortsetzten. Von Tante Mira
erhielten wir das Nötigste an Kleidungsstücken, und der nun sechs Wochen alte
Andreas bekam wieder einen Kinderwagen!
In den
Nächten gab es ständig Bombenalarm, und wir
saßen im Keller und hörten über uns die Flugzeuge
brummen. Als wir die
Entwarnungs-Sirenen hörten und den Keller verlassen konnten,
stiegen wir zum
Dachboden hinauf und sahen aus einem Dachfenster hinaus am ganzen
südlichen
Horizont den Lichtschein des Berliner Flammenmeeres - und in einer
anderen Nacht im Nordosten den Flammenhimmel über Stettin.
Derweil war es in Eberswalde noch friedlich, und
die Verwaltungs-Bürokratie funktionierte noch. Vom Wirtschaftsamt bekamen wir
ein Bündel "Bezugscheine für Spinnstoffwaren", datiert 14.2.45. Damit
waren wir berechtigt, zusätzlich zu den entsprechenden Abschnitten auf den
Lebensmittelkarten Kleidungsstücke einzukaufen: Für den "Inhaber geb.
8.4.35" (das war Ernst-Martin) "eine Unterhose für Knaben" und
"ein Taghemd für Knaben". Das war dringend notwendig, denn wir hatten
ja nur das mitgebracht, was wir auf dem Leibe trugen. Die Bezugscheine galten
für Leute mit "Fliegerschaden"; Flüchtlinge waren noch nicht
vorgesehen. Mit diesen wertvollen Papieren pilgerten wir, Mutter mit vier
kleinen Kindern, durch etliche Läden, aber natürlich gab es nichts zu kaufen.
So blieben die Bezugscheine bis heute erhalten.
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Vaters Flucht
Derweil wussten wir nichts von unserem Vater, der
mit einem "Sondereinsatzbefehl" in Thorn zurückbleiben musste. Wer
bei einer Polizei-Kontrolle nicht seinen Einsatzbefehl vorzeigen konnte, wurde
als Deserteur angesehen und konnte standrechtlich erschossen werden. Das
Papier war also lebenswichtig und blieb
daher erhalten, wie auch einige andere Einsatzpapiere, die später
drankamen. Erhalten ist auch seine Armbinde mit dem Roten Kreuz.
Was er nun erlebte, erfuhren wir erst später:
Nach seinem glücklich überstandenen Sturz in die
Bromberger Baugrube hatte er sich von uns verabschiedet und war wieder nach
Thorn zurückgekehrt. Am 22. Januar wurde der verbliebenen "Ortsgruppe
Thorn-Mocker-Ost" um 8 Uhr morgens Antreten befohlen, zur Begleitung eines
Trecks. Die Gruppe bestand aus Dr. Lemmel, Dr. Wemma und zwei Schwestern aus
dem Krankenhaus. Es war aber zunächst kein Treck vorhanden. Dann wurden mehrere
Wagen bei der Firma Graap zusammengestellt. Um 10 Uhr 30 setzte sich der Treck
mit 8 Pferdewagen Richtung Nordbahnhof in Bewegung. Dort wurde der ganze Treck in
einen "Evakuierungszug" verladen, der um 13 Uhr 30 vom Nordbahnhof
stadteinwärts fuhr und im Bahnhof Thorn-Mocker stehen blieb, fünf Gehminuten
von unserem Haus entfernt. Nachts um 0:15 fuhr der Zug ab Richtung Norden. Nach
20 km kam er um 6 in Kulmsee an, wo Vater, es war der 23. Januar, seinen 43.
Geburtstag mit Abwarten beging. Wegen der Gefahr von Fliegerangriffen sollte
der Zug möglichst nur nachts fahren, und das ohne Licht. Abends um 22 Uhr fuhr
der Zug Richtung Westen die 30 km bis zur noch intakten Bromberger
Weichselbrücke, fuhr auch über die Brücke, kam dann aber nicht weiter. Offenbar
waren die Russen bereits von Süden her an Bromberg vorbei vorgedrungen, so dass
es über Bromberg kein Entkommen mehr nach Westen gab. Einige Tage zuvor hatte Vater
seine Familie hier in Bromberg verlassen und wusste nun nicht, dass wir zwei
Tage zuvor, offenbar in letzter Minute, Bromberg mit den drei Bussen Richtung
Norden verlassen hatten.
Vaters Evakuierungszug machte also kehrt und fuhr
über die Weichselbrücke zurück Richtung Osten. Nach Mitternacht traf der Zug in
Kulmisch Wenzlau ein und fuhr am 24.1. noch ein kurzes Stück nördlich bis Kulm,
wo er ohne Lokomotive stehen blieb. Die Lok musste repariert werden. Eine
andere Lok sollte aus Graudenz kommen, kam aber nicht.
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Der Treck wurde aufgelöst und jetzt war jeder auf
sich allein gestellt. Man bereitete sich vor, ohne Gepäck zu Fuß weiter zu
kommen und die Weichsel zu überqueren, bei Schnee und lausiger Kälte. Doch nun
tauchte ein "Reichsbahn-Räumungszug" auf, der einige Wagen des
Evakuierungszuges mitnahm und um 19 Uhr Kulm Richtung Graudenz verließ. Er kam
aber nicht weit: Um 21 Uhr gab es bei Adlig Waldau einen Zusammenstoß mit einem
vorausfahrenden Zug. Beide Züge, die wegen der Gefahr von Luftangriffen völlig
verdunkelt waren, fuhren zwar nicht sehr schnell, aber ein Wagen, in dem sich
Munition befand, explodierte. Es gab 7 Tote und etliche Verletzte, die von Vater versorgt
werden mussten. Mit den heil gebliebenen Wagen des vorderen Zuges konnte Vater
dann mitfahren. Es war aber ein "Wehrmachts-Sprengzug", der bis
Graudenz mehrmals stehen blieb, um hinter sich die Eisenbahn-Gleise mit
Sprengladungen zu zerstören.
In Graudenz gab es wieder eine intakte
Eisenbahnbrücke über die Weichsel, und am 25.1. abends konnte Vater mit einem
"Bauzug" der Wehrmacht die Weichsel überqueren und kam nach einer
Fahrt von 20 km am 26.1. erst um 18 Uhr in Laskowitz an, wo sich die kleine
Ost-West-Bahnlinie mit der Hauptstrecke Bromberg-Danzig kreuzt. Von hier ging
es um 21:30 in einem Güterwagen 40 km weiter nach Westen bis Tuchel, wo der Zug
am 27.1. um 14 Uhr ankam und dann noch 20 km weiter bis Sehlen kurz vor Konitz
fuhr. Hier stieg er in einen "Behelfszug" um, der gegen 22 Uhr in
Konitz ankam.
In Konitz geriet er als Arzt in einen eiskalten
Güterwagen mit Verwundeten. Der Zug, der bevorzugt durch Pommern nach Westen
fahren sollte, konnte aber nicht abfahren, weil die Strecke verstopft war.
Angeblich. In Wahrheit hatten die Russen inzwischen schon von Süden her einen
großen Teil Pommerns eingenommen und die Ostsee-Küste erreicht, so dass es hier kein Durchkommen mehr gab.
Hier scheiterte also der zweite Versuch, Richtung Westen weiter zu kommen. Es
blieb nur noch der Ausweg über die Ostsee.
Glücklicherweise gab es einen Lazarett-Zug mit
leichter Verwundeten, der von Konitz aus in nordöstlicher Richtung nach Danzig
fuhr. Die Strecke führte durch Preußisch Stargard, wo wir eine Woche zuvor in
der Irrenanstalt übernachtet hatten; der Zug, der uns durch Pommern bis Eberswalde
brachte, war der letzte Zug gewesen, der durchkam.
Am 28. oder 29. Januar kam Vater in Danzig an,
eine Woche seit dem Aufbruch aus Thorn. In Danzig warteten unvorstellbare
Mengen von Flüchtlingen auf einen Platz an Bord eines Schiffes. An ein
Weiterkommen war nicht zu denken. Inzwischen war am 30. Januar die
"Wilhelm Gustloff" mit 6000 Flüchtlingen an Bord aus Danzig
ausgelaufen und versenkt worden, und am 1. Februar rückte die Rote Armee
kampflos in Thorn ein. Aus Ostpreußen trafen ständig weitere Scharen von
Flüchtlingen in Danzig ein.
In diesem Chaos gab es immer noch amtliche
Stellen, bei denen man eine Reisebestätigung bekommen konnte, mit der unser
Vater nach einer ganzen Woche vergeblichen Bemühens am 4. Februar einen Platz
auf einem Schiff bekam. Es war ein Verwundeten-Transporter des Norddeutschen
Lloyd namens "Der Deutsche", für den er als Arzt verpflichtet wurde. Mit großem Glück (viele Schiffe wurden
von russischen Torpedos versenkt) kam das Schiff am 10. Februar in Rostock an.
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In Eberswalde gingen wir täglich zum Roten Kreuz,
um etwas über Transporte des Thorner Krankenhauses in Erfahrung zu bringen.
Eines Tages, als wir wieder das Rotkreuz-Büro betraten, hörten wir, wie jemand
ein gerade angekommenes Telegramm einer Sekretärin in die Schreibmaschine
diktierte: "Doktor Lemmel in Rostock sucht seine Familie...".
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Die
einzige Verwandtschaft im Westen war Pastor Gehrcke in Isenhagen in der
Lüneburger Heide, der freilich selbst zuvor in Hannover ausgebombt
worden war. Hier im Pfarrhaus in Isenhagen kam die Familie wieder
zusammen. Die Flucht war zu Ende.
(Wie wir von Eberswalde nach Isenhagen gelangten, darüber gibt es Berichte an anderer Stelle.)
Großmutters Flucht
Großmutter
Lemmel (Charlotte Lemmel geb.Peter) lebte als Witwe in Königsberg,
Hardenbergstr. 11. Als im August 1944 Königsberg bombardiert wurde,
blieb der westliche Vorort, wo Großmutter wohnte, verschont.
Da aber mit weiteren Bombardierungen gerechnet wurde, wurden viele
Einwohner evakuiert. Großmutter kam nach Schlesien, nach
Mittelwalde im südlichsten Zipfel des Glatzer Berglandes. Dabei
konnte sie etliche Koffer mit Textilien und Hausrat mitnehmen, denn sie
musste ja damit rechnen, dass ihre Königsberger Wohnung
mit allem Inventar zerstört werden würde. In dem entlegenen
Bergdorf erlebte sie
den Einmarsch der Roten Armee, und dann die Übernahme der
Verwaltung durch die Polen. Über ihre Erlebnisse in dieser Zeit
hat
sie nichts erzählt. Im März 1946 wurde sie mit vielen anderen
Deutschen in einen geschlossenen Güterzug
gesteckt, der abgeschlossen wurde, damit niemand unterwegs aussteigen konnte*).
Nach zehn Tagen war Endstation in einem kleinen Ort in Westfalen.
Sie wusste nichts über den Verbleib ihrer Familie. Mit einem
Telegramm konnte sie mit Familie Gehrcke in Isenhagen Kontakt
aufnehmen. Hier war inzwischen auch ihre unverheiratete Tochter Hanna
nach abenteuerlicher Flucht aus Königsberg eingetroffen und konnte
nun nach Westfalen reisen und ihre 75-jährige Mutter abholen, ein
Stück mit der Eisenbahn, zuletzt mit einem Pferdefuhrwerk. Bei der
Abreise aus Mittelwalde hatte Großmutter noch mehrere Koffer, die
ihr freilich alle unterwegs gestohlen wurden, bis auf einen einzigen,
auf dem sie im Güterzug gesessen hatte. Es war nichts
Zerbrechliches drin, so dass sie bequem drauf sitzen konnte. Diesen
Koffer brachte sie
jetzt nach Isenhagen mit. Es war das einzige, was sie von ihrem
Königsberger Besitz gerettet hatte. Und was war drin? Neben
einigen belanglosen Textilien drei große weiße
Tischtücher, über drei Meter lang, aus wertvollem
Baumwoll-Damast mit eingewebten Ornamenten. Auf diesen
Tischtüchern, die mit eingesticktem Monogramm "CP" zu ihrer
Aussteuer gehörten, hatte 1898 in Königsberg ihre
Hochzeitstafel stattgefunden.
Im Jahre 2010 bedeckten diese Tischtücher, nunmehr über 110
Jahre alt, die Hochzeitstafel ihres ältesten Urenkels in Ebenfurt bei Wien.
19.8.2013
Nach dem Abtransport aus Glatz erhielt sie im Flüchtlingslager des
Kreises Siegen einen Flüchtlings-Meldeschein. Sie wurde
desinfiziert und dem Förster Birkenfeld in Nettelstädt
Nr.17 zugewiesen. Da blieb sie einige Zeit, bis ihre Tochter Hanna sie nach Isenhagen abholte.
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*) Der grausige Transport von Mittelwalde in den Westen wird geschildert in:
Katharina Elliger: "Und tief in der
Seele das Ferne. - Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien."
RoRoRo Taschenbuch 23653, September 2004, 5. Auflage Oktober 2010,
S.171-177.