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Diese "Erinnerungen" werden ergänzt durch einen Bericht über Helene Sembitzki's Vater Johannes Symanski und über ihren Mann Martin Sembritzki.



Erinnerungen von Helene Sembritzki geb. Symanski

Mit Bildern versehen vom Schwiegersohn Gerhard Lemmel 1980 und Enkel Hans-Dietrich Lemmel 2006. Ins Web gesetzt 7.7.2008, seither mehrfach ergänzt.

Vorwort von H.D.Lemmel


Unser Großvater Martin Sembritzki, geboren am 24.8.1872 in Königsberg, war seit 1902 Stadtrat in Königsberg, wo die drei Kinder Eva, Vera und Arnold geboren wurden. Bereits 1913 zog die Familie um nach Berlin, wo Martin erst Stadtsyndikus, dann Stadtrat in Charlottenburg wurde, schließlich Bezirksbürgermeister in Berlin Steglitz.

Seiner Frau Helene geb. Symanski, geboren am 23.2.1878, ebenfalls aus einer Königsberger Familie, war der Weggang aus Königsberg schwer gefallen. Nachdem Martin Sembritzki am 1.August 1934 gestorben war, reiste sie im April 1935 nach Königsberg, wo am 8.4. ihr ältester Enkel Ernst-Martin Lemmel geboren wurde. Hier berichtete sie in einem Brief an ihren Sohn Arnold von einem Spaziergang an die Stätten ihrer Jugend. – Das ist Teil 1 ihrer Erinnerungen.

Ende 1937 schließlich schrieb sie für ihre Kinder Erinnerungen auf, in denen sie die Personen ihrer Verwandtschaft schilderte. Das ist Teil 2 ihrer Erinnerungen. Da diese Erinnerungen nur ihre Jugendzeit betreffen, habe ich als Teil 3 noch einen Nachtrag aus eigener Erinnerung angehängt. 

Über ihren Vater, den Königsberger Landgerichtsrat Johannes Symanski, gibt es einen separaten Bericht,

Teil 1: Ein Spaziergang in Königsberg Anfang April 1935


Das war ein seltsamer Spaziergang heute. Zuerst fuhr ich zum Haberberg heraus, wo auf dem alten Domfriedhof meine Eltern, Geschwister und sonstige Vorfahren liegen. (Haberberg ist ein Vorort auf der südlichen Pregelseite; hier liegt der Friedhof der Domgemeinde.) Die alten Gewölbe sehen bei dem leuchtenden Sonnenschein und grünen Schimmer der Sträucher besonders ehrwürdig aus.  Der Boden zwischen den Gräbern sah einem leuchtendblauen Himmel gleich durch ein Meer von blühender Scylla. Darunter, besser darin, saß auf einem Sockel ein steinernes Engelchen und betete. Unsre Grabstelle sah noch ziemlich winterlich aus, da sie eben erst von Tannen befreit war und Efeu und Immergrün noch etwas grau waren. Die Rosen müssen erst noch ausschlagen. Ich pflanzte Osterglocken herauf, sodaß es zum Frühling umher etwas besser paßte. Zwei Steinsockel, die die eiserne Kette halten, lagen am Boden und ich vermutete rohe Gewalt, erfuhr dann aber, was mir auch sofort einleuchtete, daß die alten Linden die Attentäter waren, deren Wurzeln die steinernen Sockel allmählich herausgedrängt hatten, so daß sie stürzen mußten. Ich habe nun in die Wege geleitet, daß die Sockel etwas weiter ab von den Linden eingegraben werden sollen. Ob es gehen wird, ist fraglich. Sonst müssen sie mit den benachbarten Erbbegräbnissen irgendwie verbunden werden.

Von dort fuhr ich dann herunter, zum Königstor heraus, das Grab von Großvater Sembritzki ansehen, fand es völlig verfallen und lasse es richten. Da es einen Rahmen hat, ist es verhältnismäßig einfach, da nur neue Erde hineingebracht zu werden braucht, der Stein gestützt und einige Blattpflanzen heraufgesetzt zu werden brauchen. (Das Königstor, das östliche Stadttor Königsbergs, lag am Ostende der Königstraße, wo man durch die Wallanlagen zum Friedhof der Deutsch-Reformierten Kirche kam, mit dem Grab von Helenes Schwiegervater, dem Schiffbau-Ingenieur Rudolf Sembritzki, gestorben 1910.)

Zurück ging ich dann zu Fuß durch die alten Alleen, und die Kinder werden sich gewundert haben, wie sie sahen, daß eine alte Dame den ausgetrockneten Graben entlang ging und das verachtete Unkraut "Scharbockskraut" pflückte. Aber wieviel Erinnerungen kamen mir dabei wieder an die früheste Zeit.

 
Als ich an das Königstor kam, sah ich die alten Kastanien des alten Exerzierplatzes des "Herzogacker" herüberwinken und schon ging ich an den alten Bäumen entlang, wo ich mit meinen Brüdern probierte, wer höher heraufspucken konnte. Ich als Jüngste und Kürzeste war natürlich im Hintertreffen. Dann war die Weltgeschichte aber zugebaut mit allerlei Kasernen und ich bog in Nebenstraßen ab.

Da war die Wilhelmstraße, wo die Schulkameradinnen der 4ten Klasse einst wohnten, die hübschen Töchter des Schornsteinfegermeisters Jacob,  die später alle Akademiker heirateten. Da war die Friedrichstraße, wo Frau Steltner wohnte, die mir nach der Schulzeit noch französische Konversationsstund gab; und oben kam die Kalthöfische Straße. Da war es mir, als ob ich in einem alten Bilderbuch blätterte und eine Erinnerung nach der anderen tauchte auf.

Kalthöfische Straße 1-2, das Haus meiner frühesten Erinnerungen. Da war noch der Hof mit dem Hinterausgang der Wohnung. Die Steintreppe mit den seitlichen Steinbänken, wo ich gern saß, wenn die große Lina aus der Pumpe Wasser holte. Die Pferdeställe waren aber Autogaragen geworden. Die großen Wohnungen sicher geteilt. Denn wir bewohnten das ganze Parterre. Ich besinne mich auf 10 Stuben! Auch der Verschlag unter der Treppe schien noch zu bestehen, wo mein Bruder Erich sein Indianerwigwam hatte mit alten Fellen etc und dem Flitzbogen, mit dem er Tante Liese einmal beinahe ein Auge ausschoß und vom Vater eine gewaltige Ohrfeige bekam und mir vor Mitleid fast das Herz brach und ich behauptete, das Ohr wäre ganz schief, sodaß er wieder lachen mußte und Lise und ich getröstet waren.

Über uns wohnte ein Rittmeister mit vielen Kindern, mit denen wir kreuzweise befreundet waren, eine wilde Bande wie wir. Dazwischen die alte Frau Glede, die Mutter der Rasselbande, eine feine, kränklich aussehende Dame, offenbar dem ganzen in keiner Weise gewachsen. Wie die Erinnerungen auflebten, ich könnte ohne Ende erzählen.

Ich ging um das Haus herum, um den Garten zu sehen, das Paradies meiner Kindertage, aber meine Ahnung bestätigte sich. Fort die schönen alten Linden, fort die Laube, von der ich mich an Lindenzweigen haltend herunterschwang in den Haufen zusammengeharkter welker Blätter. Fort die Mistkaule neben dem Pferdestall, über die ich mit meiner Freundin Janina Glede immer herübersprang und bei Regenwetter einmal abglitt, so daß ich die Puste verlor und heulend in die denkwürdigen Worte ausbrach: "O Gott, ich bin stumm". Immerhin jagte ich meine arme Mama so ins Bockshorn, daß sie nachmittags mit mir zum Onkel Doktor ging, der mich kerngesund fand.

Fort war auch der Pflaumenbaum des Nachbargartens, von dem ich unreife Pflaumen stiebitzte und von wo aus ich gern kleine Steinchen auf des Nachbars auf dem Rasen bleichende Wäsche warf, bis mir die kleine Lina einmal meine Gemeinheit klar machte.

Übrig ist nur ein kleiner Streifen Garten dicht hinter dem Hause, wo früher die süßen Mairöschen blühten, die winterhart waren und von denen ich pflücken durfte.

Hinter diesem Fenster saß ich, als mir Schwester Hilda das a b c beibrachte, verzweifelt über meine Begriffsstutzigkeit, mich aber doch bis zur vierten Klasse brachte. In diesem Zimmer kniete meine Mutter weinend vor mir und erzählte von meinem verstorbenen Brüderchen Kurt, der vor meiner Geburt starb, und ich weinte mit. Ich kann höchstens drei Jahre alt gewesen sein.

Durch dieses Fenster schoß ich kopskegel und saß zu meinem Entsetzen plötzlich laut brüllend im Rinnstein. Wahrscheinlich hatte ich mit dem Bäckertöchterchen, der blonden Meta, über die Straße geschäkert und dabei das Gleichgewicht verloren. Meine Eltern waren auf einer Rheinreise und Tante Fabian als Stellvertreterin steckte mich voller Entsetzen ins Bett, wohl in der vagen Vorstellung, daß gebrochene Knochen davon heil werden und so war es auch. Unkraut verdirbt eben nicht.
 
Ja und dann kam die Herbartstraße, wo meine erste Schulkameradin wohnte, die Lene Bajohr, Tochter eines Feldwebels, die zum stillen Entsetzen meiner Mutter öfters anrückte. Schließlich muß das Entsetzen wohl nicht mehr still gewesen sein, denn von "Volksgemeinschaft" hatte man damals keinen Schimmer, jedenfalls schlief diese Freundschaft ein und Grete Schlemm trat in die Lücke, leider nur für kurze Zeit, da sie als einziges Kind ihrer Eltern für zu zart gefunden wurde im Winter über den Schloßteich zu gehen, und so verschwand sie zunächst wohl etwas mehr aus meinem Leben und wir sahen uns nur bei gelegentlichen Kindergeburtstagen, die bei ihr besonders lustig und schlemmerhaft waren. Ihr Vater, der ihr sehr ähnlich war, spielte immer mit und war sehr ulkig und die Chokoladenspeise mit Schlagsahne war ein Traum.

Dann kommt die Rippenstraße, die mir immer irgendwie unheimlich war, da ich sie in meinem phantastischen Gehirn mit Totengerippe in Verbindung brachte, das ich einmal bei Lise's 15 Jahre älterem Studentenbruder stehn sah, Arnold Müller genannt, und das mich lange in meinen Träumen verfolgte.

Damit komme ich zur Lobeckstraße, wo Fabians wohnten; dieses Ende sind Lise und ich sicher täglich mindestens einmal hin und zurück gegangen. Da gab es "Schwadengrütze" zu essen, die es heute überhaupt nicht mehr gibt, und unser Entzücken war, weil diese Grütze im Morgentau von den Gräsern geschöpft wurde, wie Tante Fabian erzählte, ich glaube nur von den Menoniten angepflanzt oder gesät wurde.
Altrossgärter Kirche. [Königsberger Bürgerbrief Nr.75, 2010]
Nun vorbei an der Lobeckstraße, vorbei am Klingershof, der kurzen bergigen Straße mit dem Blick auf den kantigen Altroßgärter Kirchturm, an den sich der alte Kirchhof schloß, der Spielplatz meiner jüngsten Jahre, wo zwischen den Gräbern die Taubnesseln in Mengen wuchsen, die Lieblingswohnung der "Goldkäferchen", die mein Entzücken waren und die ich nachdem nie mehr sah, Käferchen so groß wie Marienkäfer, goldig und in allen Farben schillernd. Eine Spezies, die ganz ausgestorben zu sein scheint, vergangen wie eine Seifenblase oder ein Kindertraum. Dahinter lag der Teich des Gärtners Bloede, der im Winter der in der nächsten Nähe wohnenden Jugend zum Schliddern und Schlittschuhlaufen diente, wo auch ich herumrutschte, blaugefroren als lästiges Anhängsel der älteren Geschwister und deren Freunde.

Zurück zur Kalthöfischen Straße zwischen Klingershof und Stiftsgasse. Weshalb dachte ich da plötzlich an den längste vergessenen Onkel General Stroedel und dessen Tochter Helene, meiner seltenen und viel älteren Spielgefährtin? Wenn mich abends der Bursche heimbrachte und an der Stelle muß es wohl gewesen sein, daß ihm der Trott mit mir zu langweilig wurde und er mich plötzlich auf den Arm nahm teils zu meiner leisen Beschämung und teils zu meiner heimlichen Freude. Wie angenehm und schnell kam man nach Hause, auch wenn sein Kopf etwas nach Pomade und Schweiß duftete.

Dann gings durch die Stiftsgasse nach dem Hinterroßgarten, wo mich mein Weg am Städtischen Krankenhaus und am Krankenhaus der Barmherzigkeit vorbeiführte, eine reizlose Gegend mit wenig besonderen Erinnerungen, denn zum Roßgärter Tor ging ich als Kind mit den Schwestern über Herzogacker am Wall entlang. Jetzt sieht man von da unbehindert durch die Festungsmauer über den veilchenblauen Oberteich nach den im zarten Grün und bläulichen Dunst liegenden roten Dächern der Villen. Damals strebte man durchs Tor über die Wiesen, wo Wiesenschaumkraut und die roten Pecknelken blühten nach der Böttcherschen Badeanstalt, wo die älteren Schwestern mich zum ersten Mal ins kalte Wasser tunkten und mein erschrecktes Herz und die Atemlosigkeit mich aufschreien ließen. Damals war man noch nicht so weise, wenigstens die Jugend nicht, die Kleinen von allein ins flache Wasser gehen zu lassen mit paddeln und weiterlocken. Na, das kam später und ich wurde eine rechte Wasserratte und lernte von den Fröschen das Schwimmen.

Ja, und dann kam ich nach dem grünen Platz am Hintertragheim, dem vorstehenden Eckhaus, und war auf einmal, wenn nicht alt, so doch ganz erwachsen und sah hinauf nach den Fenstern, wo Evchen geboren wurde, und dachte des rosa Sportwagens, in dem ich sie spazieren fuhr unter dem weißen Lammfell und wie sie ein Arbeitsmann so wohlig in den Kissen liegen sah und voll Klassenhaß, der ja heute nicht mehr existieren soll, sagte: "Da liggt dat Aas wie'n Otter."

Ja und nun bin ich ein paar Häuser weiter zuhause vorläufig und bin mittlerweile auf diesem Wege Großmutter geworden. Der Weg hat 54 Jahre gedauert, vom 3. Jahre etwa bis zum 57sten. Es liegt noch viel Erleben auf dem Weg, aber alles kann man ja nicht schreiben und viel, das meiste, Erleben dieses Zeitraumes liegt auch noch auf anderen Wegen. Vielleicht kann ich ein andermal davon schreiben. An Eva schreibe ich über einen anderen Spaziergang, vielleicht könnt ihr austauschen.

Also, liebe Kinder, es gab allerlei zu erleben und mir fällt noch so viel ein, was ich vergessen habe von der Kalthöfischen Straße zu erzählen. Uns schräg gegenüber war ein Haus, in das ich einmal mit der kleinen Lina hinüber ging und kam in ein Zimmer, da lag die Leiche eines jungen Mädchens im Sarg, angetan wie eine Braut und hübsch anzusehn, aber mir war wohl doch etwas beklommen zumute, und ich kann noch heute nicht einen Geruch gemischt aus Essig und Lorbeeren vergessen. Meine Mutter wird wohl der kleinen Lina ordentlich in die Parade gefahren sein. Vielleicht habe ich auch dicht gehalten, denn ich liebte die kleine Lina sehr, andererseits war ich ja auch so völlig naiv sicher, daß es für mich nichts zu verschweigen gab.

Es war auch das Haus Kalthöfische Straße 1-2 von wo ich eines Tages auswanderte um mir eine neue Mutter zu suchen, da meine Mutter, die ich eine Rabenmutter genannt hatte, mir keinen Zucker in den Milchkaffee geben wollte. Man zog mich an und stellte mich vor die Türe und ich wanderte davon. Schließlich mußte mir Lina zur Hintertür hinaus folgen und mich zurückholen.

Ja und in einem Frühling war das Eckhaus von oben bis unten mit Raupen bekrochen und die Gassenjungens zermanschten soweit sie reichen konnten. Seitdem habe ich wohl das Grauen vor allen Raupen. (Anmerkung des Enkels Hans-Dietrich Lemmel: Ich erinnere mich lebhaft, dass ich als 8-Jähriger in Thorn eines Tages entdeckte, dass man die Omama mit einem Regenwurm in der Hand durch den ganzen Garten jagen konnte, bis sie sich in ihrem Zimmer einschloss.)

Aus der Kalthöfischen Straße stammt auch meine Freundschaft mit der Hökerin Frau Frech, wohin ich öfters lief mir für 2 Pf Gummibonbons zu holen. Die zwei Pfennig hatte ich von meinem Schwager Zimmer, der mich damit bestach, damit ich ihn mit meiner großen Schwester allein ließ. Die beiden Söhne dieser einfachen Hökerin wurden beide Akademiker. Der Älteste wurde Bankdirektor und heiratete die älteste Tochter von Glede's, die blonde Eva, die aber leider schielte. Die schöne Schwester Frech erschoß sich am Grabe ihres Vaters, weil sie nicht den Mann, der ihr bestimmt war, heiraten wollte; wahrscheinlich spielte eine unglückliche Liebe daneben.

Als letzte Erinnerung aus der Kalthöfischen Straße habe ich die einzige Erinnerung an die alte Frau Reicke. Sie wohnten ein paar Häuser weiter und ich besinne mich sie bei einem Besuch mit meiner Mutter oben auf dem Treppenabsatz gesehen zu haben mit den dunklen Hängelocken zu den Seiten des schmalen blassen Gesichts in dem die dunklen Augen hinter einer, ich glaube, blauen Brille waren, und ein Häubchen trug sie auf dem Kopf. Ich habe noch die dunkle weiche Stimme im Ohr und daß hinter dem Hause ein kleines Gärtchen war mit Rabatten von Obststräuchern, Obstbäumen und viel Sonne.

 -  Nun seid nicht böse, daß ich Euch so viel vorgeschwafelt habe, aber es ging ordentlich mit mir durch, und ich tat es eigentlich meinetwegen und Ihr müßt es nun als Brief nehmen. Nun Schluß, ich muß zum Abendbrot, heute mit Gerhard solo...

Ende der Erinnerungen.

Nachtrag von H.D.Lemmel: Das Abendbrot fand "mit Gerhard solo" statt, weil ihre Tochter Vera noch in der Klinik war, wo am 8.April 1935 ihr ältester Enkel geboren wurde, der sie einige Zeit später anregte, wieder ihr Maltalent auszuprobieren.
Eine selbst gemalte Postkarte 
Ein Porträt

Ernst-Martin Lemmel, geboren 8.4.1935 in Königsberg.
Pastellzeichnung von seiner Großmutter Helene Sembritzki.

 
Teil, 2: Familienerinnerungen

von Helene Sembritzki, geschrieben Ende 1937


Ostpreußen

Schwarzweiße Rinder weiden
Geruhsam auf blumiger Au,
Auf fruchtbarer Erde schaffen
Gar emsig Mann und Frau.

Goldene Meere wogen
Von reifem Korn,
Einsame Dünenwege säumet
Der stachliche Dorn.

Ernstgrüne Wälder steigen
Hügelauf, hügelab,
An einsamer Stelle schweiget
Das Hünengrab.

Kohlweißlingsscharen flattern
Über dem Klee,
Schaumweiß Möwen segeln
Über der See.

Und Störche nisten traulich
Auf Scheune und Haus,
Es konnte sie nichts vertreiben,
Nicht Kriegeslärm und Graus.

O Heimat, liebe Heimat,
Wie schön ist Dein Gesicht!
Dein Bild wird mich begleiten
Bis einst mein Auge bricht.


Ja, liebe Kinder, Ihr spracht den Wunsch aus, ich solle "Familiengeschichte" schreiben. Wie anspruchsvoll das klingt. Wenn ich "Familienerinnerungen" sage, habe ich schon mehr Mut. – Ich will es versuchen.

Kalthöfische Straße 1-2 in Königsberg Pr.

Man sagt, dass die Erinnerung bis in das dritte Lebensjahr zurückreiche. Es kann schon richtig sein, denn so alt war ich wohl, wenn ich mir die ersten bildhaften Erinnerungen zurückrufe, die beginnen in jenem schmucklosen grauen Hause an der Peripherie der Stadt Königsberg gelegen, dessen ganze Parterreräume wir bewohnten und dessen nach hinten gelegener Garten das Paradies meiner Kindheit war, nicht nur meiner, sondern auch meiner Geschwister und der Jugend überhaupt, die das dreistöckige Haus beherbergte. Die andern Einwohner des Hauses überließen uns resigniert das ganze Revier.


Vater Johannes Symanski

Seltsam ist es, daß ich aus den frühesten Jahren von meinem Vater nur eine schemenhafte Erinnerung hatte, da er durch doppelten Beruf bis in die Abendstunden von Hause ferngehalten wurde und für mich als Jüngste erst sehr viel später deutlich in Erscheinung trat. Ich könnte aus der frühesten Zeit nicht einmal eine Beschreibung seines Äußeren geben, abgesehen davon, daß er zuhause in seinem Zimmer einen Schlafrock trug und einen roten Fez auf dem schon stark gelichteten Scheitel, denn der kgl. preuß. Landgerichtsrat zog sich meist in seine Studierstube zurück, wenn er daheim war, um noch einen Berg seiner angehäuften Akten abzuarbeiten und war froh, wenn der Lärm seiner sechs Kinder ihn nicht zu arg störte. Bei der geräumigen Wohnung war Ruhe auch durchaus möglich, denn die Kämpfe der Brüder spielten sich auf der durch einen langen Korridor getrennten anderen Seite der Wohnung ab. Jedenfalls sah ich meinen Vater selten, und wenn es geschah, war ich durch die Reihe der fünf älteren Geschwister, die seine Aufmerksamkeit naturgemäß viel mehr in Anspruch nahmen, getrennt, und er blieb für mich lange so etwas wie eine ferne Gottheit. Sehr viel später erst kam ich in ein nahes Verhältnis zu ihm, eigentlich erst, als ich verheiratet war und er meinen Kindern ein gütiges Großvaterherz zeigte, diese Güte, die mir als seinem jüngsten Kind verborgen blieb damals, zum Teil wohl auch aus einer seelischen Scheu heraus.

  
Johannes Symanski
links um 1865
Mitte 1871 in Königsberg mit seiner Frau Ottilie geb. Krebs
rechts als Landgerichtsrat in Königsberg um 1882

Mein Vater war der älteste von so viel ich weiß vier Geschwistern, drei Söhnen und einer Tochter, des Geh. Justizrates Karl Wilhelm Symanski und seiner Frau Friederike geb. Rink. Mein Vater war ein kleiner, grazil gebauter Mann mit einem feinen Gelehrtenkopf. Seine Haartracht war der damaligen Zeit gemäß nicht kurz gehalten hinten, sondern fiel bis auf den Kragen und war vorn über den schon gelichteten Scheitel quer herübergekämmt. Er trug eine Brille und das sehr kleine Gesicht wirkte größer durch einen nicht zu langen Vollbart.


Großeltern

Von meinen Großeltern väterlicherseits weiß ich leider herzlich wenig, da sie vor meiner Geburt bereits beide tot waren, ebenso die Eltern meiner Mutter (August Krebs, Steueraufseher in Breslau, und Frau Ottilie geb. Wagner).


Mutter Ottilie Symanski geb. Krebs

Wenn ich an meine Mutter zurückdenke, scheint es mir, als wenn ich ihr Äußeres mit dem Beginn meiner Erinnerung dasselbe geblieben wäre bis zu ihrem Ende. Das liegt wohl daran, daß sich die Frauen jener Zeit mit 30 Jahren nicht viel anders kleideten als mit 60 Jahren. Da spielten ein paar graue Fäden im Scheitel, denn die Frisur blieb auch dieselbe, keine Rolle. Die Einfachheit und Anspruchslosigkeit der Frauen jener Zeit war ja ohnegleichen, wenigsten der Frauen der altpreußischen Justizbeamten, die ich ja hauptsächlich in meiner Umgebung kannte. Die Frauen waren eben nur Gefährtinnen des Mannes und Mütter, und paßten sich in selbstloser Selbstverständlichkeit dem kleinen Geldbeutel an, und mir schien, ohne Kummer. Je mehr Kinder, je bescheidener mußten die Mütter sein, und es gab viele Kinder überall, und man war damals nicht weniger glücklich als heute, im Gegenteil. Es war der Mutter selbstverständlich, daß sie auf den neuen Wintermantel und den neuen Hut verzichtete zugunsten der heranwachsenden Töchter. Ebenso war es natürlich auch selbstverständlich, daß die Jüngsten mit jedem aufgefrischten Stück der älteren Geschwister zufrieden sein mußten. Ja, ich besinne mich, daß ich, als ich ausnahmsweise einmal einen neuen, sicher sehr hübschen weißen Stoffhut bekam, mir einbildete, daß mich jeder auf der Straße ansähe und laut weinend nach Hause kam und nicht mehr zu bewegen war, den Hut wieder aufzusetzen.

Meine erste Erinnerung an meine gute Mutter ist, daß sie in dem großen dreifenstrigen Gartenzimmer mit den grünen Ripsmöbeln und den weißen Götterbildern an der Wand, am Boden vor mir kniete, mich, die ich etwa drei Jahre alt sein mochte, im Arm hielt und mir weinend von meinem vor meiner Geburt verstorbenen Bruder Kurt erzählte, so daß ich meinem gepreßten Kinderherzen auch durch Tränen Luft machte, natürlich nur verstehend, daß meine gute Mutter traurig war. Da hing an der Wand das Bild des mit zwei Jahren an Diphtherie verstorbenen Brüderchens, das ich so liebte, und dem Arnold im gleichen Alter so ähnlich sah.

Meine Mutter muß damals etwa Mitte vierzig gewesen sein, eine kleine, ich glaube rundliche Frau mit ovalem, frischem Gesicht, einer geraden, nur durch Pincenez entstellten Nase, mit dunklen, sehr gütigen Augen. Schon um ihres Ausdrucks willen würde mir meine Mutter schön erschienen sein, und sie war in ihrer Jugend sicher ein hübsches Mädchen. Jedenfalls erinnere ich mich, daß mein Vater später einmal sagte: "So hübsch, wie Eure Mutter war, ist keine von Euch." Sie soll auch in ihren jungen Jahren sehr hübsch gesungen haben, welches Talent sie voll und ganz auf meine älteste Schwester Hildegard vererbte.

Meine Mutter hatte ein frohes Herz und einen praktischen Verstand, war neben ihrer Arbeit bemüht, durch Lektüre aller Art, vor allem auch der Klassiker, die in unserer Bibliothek vorhanden waren, sich unserm schöngeistigen Vater anzupassen.


Großeltern Krebs

Ihre Mutter war die Frau eines Steuerbeamten in Silberberg im Glatzer Bergland, wo auch meine Mutter als einziges Kind geboren wurde. Da meine Mutter katholisch getauft wurde, nehme ich an, daß einer oder auch beide Elternteile katholisch waren. Später ist sie dann aber Mitglied der evangelischen Kirche gewesen. Ihr Vater starb früh und zwar muß ich annehmen, in Breslau, denn dort ist der Totenschein ausgestellt. Jedenfalls lebte meine Großmutter als Witwe mit ihrer Tochter in Breslau von einer kleinen Pension. Vielleicht hat sie auch noch irgend eine Arbeit übernommen. Sie lernte in Breslau einen Studenten der Medizin, namens Rumbaum, kennen, der sie nach abgeschlossener Berufsausbildung heiratete und mit Frau und Stieftochter in Barten in Ostpreußen lebte, wo er sich als praktischer Arzt niedergelassen hatte. Später lernte meine Mutter dort den Kreisrichter Johannes Symanski kennen und heiratete ihn mit etwa 25 Jahren. In Barten wurden dann auch die ersten Kinder geboren.


Die Kinder Symanski, um 1882:
Mitte: Walter * 1864, später Medizinalrat, verh. mit Käte Bartsch
2. von rechts: Hildegard * 1866, später verh. mit Pfarrer Zimmer
links: Margarete * 1868, später verh. Groppler
rechts: Johannes * 1870, später Kapitän, unverheiratet
links unten: Erich * 1873, bereits 1898 gestorben
(Kurt * 1875, schon 1878 gestorben)
die kleinste: Helene, die Autorin, * 1878, später verh. Sembritzki


Bruder Walter

Nach Erzählungen meiner Mutter war mein ältester Bruder Walter ein gutes, aber etwas schwieriges Kind. Den ersten Schulunterricht erteilte ihm meine Mutter selbst. Aber vielleicht ist sie keine gute Lehrmeisterin gewesen, und Begrifsstutzigkeiten Walters lagen sicher mehr am Unterricht als an mangelhafter Auffassung. Wenn er z.B. buchstabierte: "S e e – plump", so zeugte das sicher nur für Phantasie, aber trotzdem brachten diese und ähnliche Dinge seine Lehrmeisterin so zur Verzweiflung, daß sie ihn ärgerlich fortschickte, und da soll der gute Junge weinend vor ihr gekniet und gebeten haben, daß sie es doch wieder mit ihm versuchen solle.


Kinderzeit

Ja, aller Anfang ist schwer, besonders wenn eine ungelernte Kraft unterrichtet, denn ich besinne mich, daß meine ältere Schwester als meine erste Lehrmeisterin auch sehr ungeduldig wurde, als ich das A B C so langsam begriff. Sie wurde so böse, daß meine Mutter meine jüngere Schwester Margarete an ihre Stelle setzte, die dann mehr bei mir ausrichtete. Später aber nahm Schwester Hildegard meinen Unterricht wieder auf und brachte mich bis zur 4. Klasse der höheren Töchterschule. Sicher ist es aber besser, von vornherein die Schule zu besuchen, denn in manchen Fächern hat mir, insbesondere im Rechnen, stets die rechte Grundlage gefehlt, was nicht hinderte, daß ich fast durch die ganze Schulzeit stets den 1. oder 2. Platz der Klasse innehatte. Aber ich wußte selbst ja am besten, wo es fehlte. Ich verstellte mich eben bloß!

In einem Beamtenhaushalt mit sechs Kindern müssen alle Möglichkeiten, Geld zu sparen, ausgenutzt werden, daher der erste Unterricht zu Hause. Mein Vater hatte damals schon sein Nebenamt als Hilfssyndikus bei der ostpreußischen Landschaft, sonst hätte er uns nicht die frohe Jugend bieten können, die wir hatten.

Schon die geräumige Wohnung mit verhältnismäßig großem Garten, der eigentlich uns Kindern völlig überlassen war, d.h. auch den Kindern der über uns wohnenden Familie eines Rittmeisters Glede, wo es sogar sieben Kinder gab, die aber z.T. nicht in der Wohnung lebten, sondern auf dem Gut Mergen am Frischen Haff gelegen, auf das ich auch einmal mitgenommen wurde, und an das ich noch dunkle Erinnerungen habe vom großen Obstgarten, und Pflaumenmus aufs Brot, einer sehr langen Familientafel und vor allem an das Baden im Haff. Zu dem Zweck mußten wir uns erst durch einen Wald von Rohr schlängeln, um in klareres Wasser zu gelangen. Sehr appetitlich war es nicht, aber naß und schön mit all den Kindern, meinem Bruder Erich, der als Kamerad von Paula Glede da war und Tamina, meiner älteren Freundin und anderen. Die Mutter Glede war eine hübsche, sehr zart aussehende ältere Dame, so schien es mir damals, denn ein Teil der Kinder war ja schon erwachsen, und trotz des Gutes oder vielleicht gerade des wegen schien Schmalhans Küchenmeister zu sein, und ich besinne mich, daß bei Gledes in einer Spiegelkommode immer trockene Brotkrusten lagen, und wenn die Kinder hungrig waren, griffen sie einfach in die Schublade. Und wie das Ungewöhnliche immer einem Kindergemüt verlockend erscheint, so schmeckten mir die angebotenen Brotkrusten besser als zu Hause ein Stück Kuchen.


Freundin Lise Fabian

Ja, Paula und Tamina waren meines Bruders Erich und meine Freundinnen. Dazu kam natürlich in erster Linie meine Intima Lise Fabian, mit der ich schon im Kinderwagen zusammen gespielt haben soll, denn wir waren im Alter nur zwei Monate auseinander.

Lise Fabian war das jüngste Kind von Frau Johanna Fabian, der Witwe eines gut situierten Kaufmanns. Sie war mit meinen Eltern befreundet, mit meiner Mutter schon aus der Mädchenzeit. Sie war eine kluge, stets heitre Frau mit gesundem Mutterwitz. Ihr ältester Sohn Hans war der einzige Freund meines Bruders Walter, der sich so schwer anschloß, und es sicher schmerzlich empfand, als sich sein Freund Hans früh verlobte mit Margarete Friedrich, deren Mutter auch Witwe und Freundin von Frau Fabian und meinen Eltern war. Frau Friedrich leitete Lise und mich zur ersten größeren Weihnachtshandarbeit an und war überhaupt sehr kinderlieb. Ich hatte bis zu ihrem Ende eine große Verehrung für sie. Sie hatte mit meiner Mutter und Frau Fabian regelmäßig Zusammenkünfte, wobei Karten gespielt wurde oder gehandarbeitet und vorgelesen. Sehr viel wurde Fritz Reuter gelesen, welche Mundart Frau Friedrich sehr gut beherrschte.

Meine Schwestern, welche 10 und 11 Jahre älter als ich waren, waren mit der älteren Schwester von Lise Fabian befreundet. Leider starb Anna Fabian sehr früh, ebenso wie ihr Bruder Paul.


Bruder Hans

Noch garnicht sprach ich von meinem Bruder Hans, der mir von meinen Geschwistern am fernsten blieb. In frühen Jahren hielt er mit Bruder Erich zusammen, eigentlich in einem Schutz- und Trutzbündnis gegen Bruder Walter, der als Eigenbrötler ihren Unwillen erregte und eigentlich mir gegenüber noch am aufgeschlossensten war, besonders in späteren Jahren, als der trennende Unterschied von 12 Jahren nicht mehr so ins Gewicht fiel.

Immerhin, es war schon ein bewegtes Leben für uns Kinder, auch durch die große Gastfreundschaft, die unsere Eltern stets übten, und unsere Familientafel, die durch uns schon groß war, wurde noch länger durch verschiedene junge Menschenkinder, die z.T. Mündel meines Vaters waren.


Geschwister Zimmer

Da waren vor allem die Geschwister Zimmer, Anna, Adelheid und Ernst, die früh verwaisten und mit ihrem Bruder, der in Königsberg Theologie studierte, zusammen lebten. Das heißt, bevor Ernst Theologie studierte, war er Offiziersanwärter. Er gab den Offiziersberuf auf, da er sich in meine Schwester Hilda verliebte und sie nie hätte heiraten können als Offizier, da mein Vater die nötige Zulage nicht geben konnte. So wurde Ernst Zimmer dann später der Mann meiner Schwester Hilda und uns allen ein so guter, stets teilnehmender Schwager. Er war eine ungewöhnlich gute, vornehm wirkende Erscheinung und stets zu Scherz aufgelegt und wurde später ein guter Kanzelredner und vielen hilfreicher Mensch.


Schwester Grete

Meine Schwester Grete liebten Lise Fabian und ich im Kindesalter besonders, da sie so schön mit uns zu spielen verstand und uns manchmal auf Besorgungswegen mitnahm, was wir ihr einmal wenig dankten, ohne zu bedenken, was wir taten, indem wir nämlich, als sie einen Laden betrat, schnurstracks nachhause liefen, wo wir voll des Abenteuers ankamen und später meine arme Schwester Grete weinend vor Angst, ob wir auch gesund angelangt wären. Ihre Angst bewegte mich innerlich doch sehr, sodaß ich es nie vergaß und aufrichtig bereute, ihr eine schwere Halbstunde bereitet zu haben.

Es gab viel Freude in meinem Elternhause, als wir noch alle jung waren. Später brachte das Leben viel Kummer und Sorgen mit sich, und nur das gute Temperament meiner Eltern konnte die Schatten immer wieder zurückdrängen, sodaß meine Jugend nicht dunkel wurde, denn als Jüngste habe ich die schwersten Zeiten und Sorgen der Eltern geteilt, als ich noch zu Hause und die Schwestern schon längst verheiratet waren und außerhalb lebten.

Aber als ich Kind war, gab es viel lustiges Leben bei uns. Talente wurden gepflegt und geistiges Leben gab es auf den verschiedensten Gebieten. Der alte Flügel und die Götterbilder an der Wand des großen Gartenzimmers scheinen mir heute Sinnbild für den Geist meines Elternhauses zu sein, denn alle schönen Künste lebten bei uns und wurden gepflegt, wenn auch im bescheidenen Rahmen der damaligen Zeit. Später haben meine Schwestern ihre Begabung in Berlin bei namhaften Künstlern ausbilden lassen, als sie verheiratet waren. Schwester Grete bei Skarbina.

Doch auch in praktischer Hinsicht wurde für die Ausbildung gesorgt. Jedenfalls lernte meine Schwester Grete schneidern und hat für sich und Schwester Hilda alle Kleider genäht und später für ihre Kinder viel selbst geschneidert bis ihre zarte Gesundheit sie daran hinderte und die in damaliger Zeit glänzenden Verhältnisse es überflüssig machten.


Gesangs- und Maltalente

Meine Schwester Hilda sang mit schöner Stimme und ergreifendem Vortrag und nutzte ihre Begabung im Dienste der Wohltätigkeit und zur Freude ihrer Freunde.

Meine Schwester Grete hatte großes Talent für Malerei und hat viele gute Bilder hinterlassen; in Notzeit, während des großen Krieges, hat sie sogar einiges verkauft.

Ich selbst hatte gleich meiner Schwester Grete eine ausgeprägte Vorliebe für Zeichnen und Malen von Kind an. Ich besinne mich, daß ich mich stundenlang mit Bleistift und Papier beschäftigen konnte und nicht nur mich sondern auch meine Freundin Lise, die neben mir saß und zusah. Eine zeitlang zeichnete ich mit Vorliebe Hasen, und zwar Mutter, Vater und Kinder und alles, was ihr Tageslauf brachte und gab erzählend den Kommentar zu den Bildern. Umgekehrt konnte Lise schön mit Puppen spielen, wobei ich wieder mehr Zuschauer war. Lise bewegte die Puppen und erzählte und ich sagte nur ab und an in lakonischer Kürze: "Weiter, Lise, weiter". Eine zeitlang zeichnete ich zum Ergötzen der Erwachsenen Karikaturen nach Bekannten, die im Hause verkehrten. Dieser Blick für das Charakteristische bildete sich später zur ausgesprochenen Vorliebe für das Porträt aus.

Ich habe dann als junges Mädchen Unterricht bei einem Porträtmaler namens Naujok gehabt in Königsberg, bin aber letzten Endes doch stecken geblieben. Jedenfalls habe ich stets das Gefühl gehabt, daß sich meine Begabung bei weiterem und besserem Unterricht anders hätte entwickeln können. Aber in meiner Ehe lagen die Verhältnisse nicht so glatt, daß ich noch viel Zeit auf weitere Ausbildung hätte verwenden können. Vielleicht war mein Talent zur Hausfrau und Mutter auch größer, sonst wäre ich rücksichtsloser vorgegangen. Ich bin eben stecken geblieben, vielleicht bauen ein Enkel oder eine Enkelin meine Begabung weiter aus, aber die Zeiten sehen nicht gerade so aus, daß man es wünschen könnte. Es ist genug, daß ich viele Stunden der Freude und Befriedigung dabei gefunden habe.

  
Gemälde von Helene Sembritzki, in Königsberg etwa um 1910.
Selbstporträt (Öl), und die Kinder Eva und Vera (Pastell) und Arnold (Öl).

Helene Sembritzki porträtiert ihren Sohn Arnold, etwa 1935/1940

Lise Fabian

Nun zurück zu meiner Freundin Lise Fabian. Sie war nicht nur bei mir, sondern oft wanderte ich die kurze Strecke von uns bis zur Lobeckstraße, wo Frau Fabian ein Haus besaß und eine von den Wohnungen innehatte. Eine von den Wohnungen hatte Lise's Bruder Hans als Studierstube. Da er Medizin studierte, stand darin in einer Ecke ein Gerippe, von ihm "Iwan Müller" genannt. So hieß der verunglückte Matrose, von dem das Gerippe stammte. Ob das wahr war oder Scherz, kann ich nicht sagen. Jedenfalls hatte ich eine Abneigung gegen den Geruch und auch gegen den Gebrauch, ihm die Hand zu reichen, wozu der große Bruder seine Schwester Lise erzogen hatte. Ja, ich muß sagen, daß mich das Gerippe lange bis in meine Träume verfolgte. Seltsam war, daß ich, als ich Lise davon erzählte, von den grausigen Träumen befreit war, jedoch Lise eine Nacht davon träumte – dann verließ uns das "Phantom".
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Helene Sembritzki mit ihrer Freundin Lise Fabian (später verheiratete Engler).
Bild 1 vielleicht um 1886 (Foto L.Minzloff, Königsberg), Bild 2 und 3 vielleicht um 1894 (Foto H.Thorun, Königsberg, Tragheimer Kirchenstraße 35)


Freunde Reicke

Noch manche andre Freunde wohnten uns nahe. In der Kalthöfischen Straße etwas weiter stadteinwärts wohnte die Familie Reicke. Vater Reicke war Bibliothekar der Universitätsbibliothek und als Kantforscher bekannt. Er fiel durch seine wuchtige Erscheinung mit dem weißgelockten Zeushaupt auf. Er hatte ein frisches Gesicht mit freundlichen blauen Augen, oft hinter blauen Brillengläsern und dem damals üblichen Vollbart. Ich besinne mich auch auf Frau Reicke noch dunkel, diese zarte blasse Frau mit den großen dunklen Augen, oft hinter blauen Brillengläsern. Lange dunkle Locken hingen zur Seite des schmalen Gesichts. So sehe ich sie, ein Häubchen auf dem Kopf, oben auf der Treppe, die man zu ihrer Wohnung ersteigen mußte. Hinter dem Haus war ein kleiner gepflegter Garten mit Obstbäumen und Blumenrabatten. Mit den Kindern, den drei Söhnen und der Tochter Anna waren meine älteren Geschwister oft zusammen, und die Söhne waren bei Gelegenheit stets begehrte Tänzer, während Anna, die Jüngste, weniger hervortrat zunächst, da sie früh zu ihrer Ausbildung die Vaterstadt verließ, später aber und Schwestern wieder näher trat und uns im Alter durch gleichen Wohnort wieder in Freundschaft verbunden ist.


Freunde Stroedel

Ein Stück weiter seitab am Hinterroßgarten wohnte die Familie des Onkels General Stroedel, mit dessen Tochter Helene ich ab und an spielte. Helene war älter als ich, und der etwas steifere, wohl auch reichere Offiziershaushalt machte mich schüchtern, und ich ging nicht übermäßig gern hin, besonders auch da gerade in den jungen Jahren zwei Jahre Altersunterschied viel trennender wirken als später. Am schönsten war es, daß mich der Bursche heimbrachte, und da mein Schritt ihm zu langweilig war, nahm er mich einfach auf den Arm, und diese Art nachhause zu kommen war doch sehr schön, trotz des Duftes von Schweiß und Pomade, der mir von seinem Kopf in die Nase stieg. Aber, wie gesagt, diese Ausflüge waren nur selten und Stroedels kamen bald nach Breslau.


Großeltern

Ein großes Manko verspüre ich in meinem Leben. Ich bin ein Kind ohne Großeltern gewesen. Da ich die Letztgeborene war, waren die Großeltern schon tot, und wenn ich später sah, was meine eigenen Kinder für Freuden durch gute Großeltern hatten, denn sie kannten sowohl väterlicher als mütterlicherseits die Großeltern, wenigstens die Mädels, dann weiß ich, daß meinem Leben etwas Wichtiges fehlte. Meine Großmutter väterlicherseits überlebte zwar den Großvater um eine Reihe von Jahren, und sie verbrachte die letzten Jahre in einem Stift in Königsberg. Als Andenken an sie existiert außer einer Miniature ein alter gotischer Stuhl, in dem sie immer in sehr gerader Haltung gesessen haben soll. Meine älteren Geschwister haben sie z.T. ja noch gekannt, sind aber anscheinend zu keinem rechten Verhältnis zu ihr gekommen. Sie muss eine vornehme, etwa kühle Frau gewesen sein. Jedenfalls scheint meine Mutter nach einigen Andeutungen mehr Respekt als Zuneigung zu ihr gehabt zu haben. Es existieren aber Briefe sowohl meines Großvaters als auch meines Vaters an sie, die voller Gatten- und Sohnesliebe sind. Sie war wohl schon eine recht alte Großmutter und hatte nicht mehr die nötige Kraft für den jungen Nachwuchs.

Die Mutter meiner Mutter starb jung und hat von uns Kindern meines Wissens nur meinem Bruder Walter näher gestanden. Es gibt ein Bild von ihr mit Walter.

Ottilie Rumbaum verwitwete Krebs geborene Wagner,
im Sommer 1869 mit ihrem ältesten Enkel Walter Symanski

Im alten Garten

Eines der liebsten Erinnerungsbilder ist der Garten hinter dem alten Haus in der Kalthöfischen Straße 1-2. In der Erinnerung scheint er mir so groß, vielleicht weil so viel Erleben sich darin abspielte. Mein Vater beschäftigte sich gern darin am Sonntag. Seiner Initiative ist es zu verdanken, daß im vorderen an das Haus stoßenden Teil des Gartens auch etwas zur Verschönerung getan wurde. Vor der einen Seite des Hauses stand eine Akazie, ein in Ostpreußen seltener Baum, der uns alljährlich durch seine süßduftenden Blütentrauben erfreute und im übrigen für die Brüder ein beliebter Kletterbaum war. Daneben vor der Front des Hauses hatte mein Vater eine Blumenrabatte angelegt, auf der allerlei Blühendes stand; als meine liebe Erinnerung einige Sträucher sogenannter Mairös'chen, die in der Knospe sehr lieblich waren, sich dann flach auftaten und zart dufteten. Noch schöner fast waren die meisten winterharten Rosen, "Mädchenerröten" genannt, aber die Mairös'chen liebte ich sehr, weil ich sie beliebig pflücken durfte. Rechts am Zaun des Gartens gab es Himbeerrabatten, auf der linken Seite nach dem Hof zu standen große Eschen, in der Mitte war ein eingezäunter Rasen, mit einem Beet von Hanf und Rizinusstauden inmitten. Auf dem Draht der Einzäunung ließ ich gern gelbhaarige Raupen spazierengehen, die ich sehr schön fand und ohne Grauen anfaßte. Weiß der Himmel, weshalb ich später solch ein Grauen vor diesem und ähnlichem Gewürm hatte.
  
Helene und ihr älterer Bruder Walter 1902. Vermutlich im Königsberger alten Garten.

Aber dann hinter dem Garten, das war unser eigentlicher Spielplatz. Da standen zwei oder drei alte Linden, in meiner Erinnerung himmelhohe Bäume, in deren Krone zur Blütezeit die Bienen summten. Einer der alten Bäume war unten hohl und in dem Loch wohnte eine zeitlang ein Igel und dann eine Blindschleiche, die mir mein Bruder Walter liebte als Kette um den Hals zhu legen. Damals kannte ich noch kein Grauen. Rechts und links im Hintergrund standen je eine Laube, dazwischen ein Reck zum Turnen. Das Turngerät hat meine ersten Übungen gesehen, den Auf- und Absprung, aber mehr kletterte ich auf dem Zaun zum Nachbargrundstück herum und auf dem Dach der kleinen Laube, die leicht zu erklettern war.

Im Herbst, wenn das Laub der Bäume gefallen war, wurde es zu einem großen Haufen vor der Laube zusammengekehrt, und vom Dach derselben ergriffen wir die unteren Lindenäste und sprangen mit "Hallo" in den Laubhaufen, ein köstliches Spiel.

Neben dem Garten gab es noch einen Hof mit einer Pumpe, mit Pferdeställen und Hühnern und einem stolzen Hahn, also allerhand zu sehen für Stadtkinder. Die Ställe dienten einem im Hause wohnenden Offizier zur Unterkunft für das Pferd oder die Pferde. Da gab es auch eine mit Holz eingefaßte "Mistkaule", wohinein der Pferdemist kam. Dieses war auch ein Spielplatz. Wir vergnügten uns damit, immer herüberzuspringen, und als der Holzrahmen einmal regennaß war, glitt ich ab und fiel in den Dünger, nicht ohne vorher mit der Brust auf die scharfe Holzkante zu schlagen, so daß mir vor Schreck der Atem ausging und ich in die denkwürdigen Worte ausbrach: "O Gott, ich bin stumm." Immerhin jagte ich meiner Mutter einen solchen Schrecken ein, daß sie mich zum Arzt brachte, der aber nur feststellen konnte, daß ich völlig heil sei. Da ich stets mit den Brüdern und älteren Mädels spielte, muß ich wohl recht wild gewesen sein, und ich besinne mich, daß ich während einer Ferienreise meiner Eltern an den Rhein, als Tante Fabian uns betreute, sicher zu deren großem Schrecken, zum Parterrefenster mich überkugelnd herausfiel, und mich furchtbar schreiend im Rinnstein sitzend fand. Wahrscheinlich hatte ich zu sehr mit der kleinen blonden Meta, der Bäckerstochter von gegenüber kokettiert.

Ich spreche reichlich viel von mir und meinen kleinen Erlebnissen in diesen Blättern, aber indem ich meine Erinnerungen übermittle, sollen sie zugleich den Geist und Stil meines Elternhauses wiedergeben.


Die große und die kleine Lina

Dabei muß ich auch unserer beiden Hausgeister, der großen und der kleinen Lina gedenken. Wir liebten uns sehr, besonders auf die blonde kleine Lina besinne ich mich, die später Schneiderin wurde. Ihre Nachfolgerin wurde dann eine Aufwartefrau, denn da ein Teil von uns Kindern schon erwachsen war, war außer der Köchin eine ständige Hilfe überflüssig und die großen Geschister kosteten mehr.

Ein großer Eindruck in meinem Kinderleben war es, als die kleine Lina mich einmal mitnahm in ein benachbartes Haus, wo ein junges Mädchen gestorben war. Ich besinne mich noch heute auf das gelbe Gesicht im dunklen Haar, bräutlich geschmückt, und auf den Geruch nach Essig und Lorbeer und Blumen von den Kränzen. Seltsamerweise sagte ich meiner Mutter nichts von dem Besuch, wohl in dem dunklen Gefühl, daß sie mit dem Unternehmen nicht einverstanden gewesen wäre und die kleine Lina Schelte bekommen hätte. Ich habe die kleine Lina auch sonst noch gelegentlöich gedeckt und das vergaß sie mir nie.

Die große Lina war lang und dünn mit sommersprossigem Gesicht und Zahnlücken, was nicht hinerte, daß ein Schneidermeister sie später ehelichte. Sie war es, die mich nicht zurückholte, als ich im kindertrotz nach einer Strafe auszog, um mir eine neue "nette" Mutter zu suchen. Und  w i e  habe ich meine Mutter geliebt! Als meine Schwestern geheiratet hatten, sagte eine Dame zu mir 10-Jährigen im Scherz: "Na Lenchen, wie labge noch, dann heiratetst Du auch." Worauf ich prompt antwortete: "O nein, ich brauche bloß Mutterchenliebe." Ich habe es nicht vergessen, weil alle so lachten, aber vor einem Jahr hat dieselbe Dame, einst meine Lehrerin, mich noch daran erinnert.

Eine ganz früh zurückliegende Erinnerung muß es sein, die mich auf den Friedhof der Altroßgärter Kirche führt, wo ich in Gesellschaft der kleinen Lina zwischen verfallenen Gräbern spielte. Auf dem Rasen blühten viele weiße Taubnesseln, die von sogenannten Goldkäferchen bevölkert waren, mit denen ich sehr gern spielte. Es waren Käfer in der Größe der Marienkäfer, goldig und in allen Regenbogenfarben spielend sehr hübsch anzusehen. Nie wieder später habe ich diese Käfer woanders gesehen.


Schlittschuhlauf

Nicht weit von dem Friedhof war in einer Gärtnerei gelegen ein kleiner Teich, der uns im Winter willkommene Gelegenheit zum Schlittschuhlauf bot. Da war ich mit meinem jüngeren Bruder und Kameraden, eines der Sohn des Pfarrers von der Altroßgärter Kirche, Freund meines Bruders Hans, der sich meiner immer so nett annahm. Später nahmen mich meine verlobten Schwestern nebst ihren Bräutigams auf den Schloßteich zum Schlittschuhlauf mit. Da wurde ich auf die Schlittschuhe gestellt und meist mir selber überlassen, sicher die beste Art, Schlittschuhlauf schnell zu erlernen, aber oft war ich doch recht durchgefroren. Als ich heranwuchs, bot der Schloßteich im Winter beim Schlittschuhlauf willkommene Gelegenheit zum Flirt.


Heirat der älteren Schwestern

Ja, meine Schwestern verließen früh das Elternhaus. Die jüngere, Grete, mit 19 Jahren als Frau des Apothekenbesitzers Robert Groppler in Pillau und ein Jahr später Hilda als Frau des Pfarrers Zimmer in Memel. Lange Brautjahre gingen voraus, und die Beobachtungen dabei haben mich sicher etwas frühreif gemacht. Meinen Schwager Zimmer liebte ich besonders, da er ein großer Kinderfreund war und viel mit mir scherzte und manchen Pfennig in die Hand drückte, wofür ich mir bei Frau Frech, einer Hökerin in der Nachbarschaft, Gummibonbons holte. Auch die Brüder liebten den lustigen Schwager. Der sehr viel ältere Schwager Groppler blieb und ferner, obwohl er immer eine große Anhänglichkeit an die Familie zeigte.
 
Ernst Zimmer

Die Hochzeiten meiner Schwestern wurden groß gefeiert. Vorher gab es den Polterabend mit vielen Aufführungen, bei denen auch Lise Fabian und ich fungierten. Ich weiß nicht merh bei wessen Polterabend es war, an dem ich als Schornsteinfeger erschien, und gerade als ich im schönsten Vortrage war, flog unsere zahme Taube auf meinen Kopf, aber ich ließ mich nicht verblüffen, auch nicht, als ich plötzlich etwas Warmes an meiner linken Gesichtshälfte niedergleiten fühlte. Der Trubel war groß, wohl weniger wegen meiner Leistung als dieses Zwischenfalls wegen. Bei einem Polterabend gab es sogar eine von musikalischen Freunden zusammengesetzte Kapelle, wobei sich auch der spätere Geograph Professor Tießen beteiligte. Ich besinne mich, daß Lise Fabian und ich bei etwa vier Polterabenden mitwirkten, unter anderem als zwei Milchmädchen, wovon noch ein Lied existieren muß. Bei der Hochzeit von Adelheid Zimmer mit Pfarrer Bierfreund gingen Lise Fabian und ich in der Kirche dem Brautpaar Blumen streuend voran.

Meine Mutter hatte viel einzustudieren und machte es stets mit viel Verständnis und Geschick, auch nicht nur für Polterabende, sondern z.B. bei Gelegenheit von meines Vaters Geburtstag, wobei einmal der "Vetter von Bremen" von Körner aufgeführt wurde, von Lise Fabian, mir und meinem Bruder Erich, wir alle noch Kinder. Ich war das Gretchen, Lise der Vetter und Erich mein Vater, der um die nötige Gewichtigkeit zu haben ein Kissen vorgebunden bekam. Lisa sah als Vetter mit ihrem Pagenkopf und der leichten schlanken  Gestalt sicher sehr nett aus. Ich saß an einem Spinnrocken und habe die Anfangsverse noch heute im Kopf nach ca 55 Jahren: "Da sitz ich schon wieder in Träumen versunken, die Spindel ruht müßig in meiner Hand" etc. Man hatte damals ein dankbareres Publikum bei solcher Gelegenheit, man war so unverwöhnt und garnicht überfüttert, und alle Künste wurden im Hause viel mehr gepflegt als heute bei der ungeheuren Schnellebigkeit und den Ansprüchen, die an jeden Einzelnen, auch schon an Kinder, gestellt wurden.


Walter und Johannes Symanski, etwa 1876
Bruder Hans

Verhältnismäßig früh verließ Bruder Hans das Elternhaus. Er hatte, nachdem er das Einjährigenzeugnis hatte, den großen Wunsch, zur Marine zu gehen. Da mein Vater aber glaubte, ihm zur Marine nicht den nötigen Zuschuß geben zu können, sollte er sich in Pillau ein Handelsschiff suchen, um als Schiffsjunge einzutreten. Er kam nach dem Gesehenen und Gehörten recht bedrückt heim, da er merkte, daß es ein Herabsinken aus Gewohnheiten einer höheren Sphäre bedeutet hätte. Nun, nach langem Überlegen entschloß sich unser Vater, ihn doch bei der Marine eintreten zu lassen, im Verftrauen, daß er sich in geldlicher Hinsicht in den nötigen Grenzen halten würde. Leider war das später nicht der Fall, und Vater hat öfters für unsere Verhältnisse große Opfer bringen müssen, um Hans zu halten. Er hatte einen Hang zur Vornehmtuerei und zum äußeren Glanz, was ihn zum Teil auch sicher auf diese Laufbahn drängte. Er war ein tüchtiger Soldat, aber auch allerlei Versuchungen ausgesetzt, denen er nicht stark genug war zu widerstehen. Sein Glanz in der schönen Uniform bestach uns Geschwister sehr, wenn er auf Urlaub zu Hause war, und wir ließen uns sehr gern mit ihm auf der Straße sehen. Auch meine Eltern freuten sich an dem schmucken Soldaten. Und doch wurde sein Schicksal so traurig und seine Laufbahn, die so glänzend begann, verhältnismäßig frühzeitig beendet. Er kam aus den Tropen, wo er sich ein schweres Geschlechtsleiden zugezogen hatte und auf der Heimreise wohl nicht durchgreifend behandelt werden konnte, geistesgestört nach Hause. Zunächst war der Zustand noch schwankend, um dann so zu werden, daß er aus der Nervenheilanstalt in eine Irrenanstalt überführt werden mußte, wo er leider noch heute ein trauriges, nutzloses Dasein führt.

Diese kummervollen und aufregenden Zeiten des Zwischenstadiums im Elternhaus, teils auch in der Nervenheilanstalt, lasten noch heute auf mir wie ein Albdruck, wenn ich daran denke, daß ich ja alles aus nächster Nähe miterlebte.

(Hierzu schrieb Helenes Neffe Hans Symanski 1982: "Es widerspricht aller medizinischen Erfahrung, dass Bruder Hans einer meta-luischen Erkrankung zum Opfer gefallen sein soll. Eine solche hätte damals, als die Wagner-Jauregsche Fieberbehandlung noch nicht entdeckt war, mit Sicherheit in wenigen Jahren zum Tode geführt. Vielmehr hat er, schizophren versandet, noch Jahrzehnte von seinem Gehalt bzw. Pension gelebt. Ich besuchte ihn aus familiärem Interesse etwa im Jahre 1935 in der Anstalt. Er ähnelte sehr stark meinem Vater äußerlich, der Wärter versuchte freundlich auf ihn einzugehen und ihm den Besuch seines Neffen verständlich zu machen; es war völlig vergeblich; der alte verschrobene Mann wollte nichts mit mir zu tun haben; die Sache soll damals mit religiösen akuten Wahnvorstellungen begonnen haben. Es ist der typische Ablauf einer schicksalhaft verlaufenen Schizophrenie. Ganz offensichtlich ist er dann um 1940 von den Nazis ermordet worden.")


Bruder Walter
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Walter Symanski, 1:1884, 2: um 1886

  Walter Symanski mit seiner Verlobten Käte Bartsch August 1903 in Rauschen.
(Nach einer anderen Beschriftung August 1905 als jung Verheiratete im Elsaß bei Hagenau.)

Am längsten daheim war mein ältester Bruder, der nach einigen Semestern Jura das Studium aufgab, um Photograph zu werden. Er hatte eine große Liebe zur Malerei, obwohl er farbenblind war. Er zeichnete sehr gut und hätte vielleicht ein guter Graphiker werden können, aber mein Vater wollte von dem Beruf des reinen Künstlers nichts wissen, wegen der Unsicherheit des Berufs. So wurde mein Bruder Photograph, nicht zur Begeisterung meiner Eltern. In der Zeit verlobte er sich. Nachdem die Braut ihn veranlaßt hatte, das Studium der Medizin zu ergreifen, ging die Verlobung auseinander. Aber mein Bruder war auf dem rechten Wege. Er absolvierte die Examina gut und wurde Bakteriologe. Er verheiratete sich mit einem viel jüngeren hübschen und klugen Mädchen, Tochter einer Witwe, Käthe Bartsch mit Namen. Sie war meinem Bruder eine gute und auch nach seinem traurigen Ende anhängliche Frau, trotz manch Schwerem, das sie durch ihn erlebte und erlitt. Aber eine glückliche Veranlagung lehrte sie, dem Augenblich zu leben und das Beste aus allem zu machen.

Zuerst lebte mein Bruder mit seiner Frau in Hagenau im Elsaß, dann in Metz. Sie wurden während des Krieges viel herumgeworfen. Zuerst kamen sie nach Gostyn an der polnischen Grenze, dann nach Meppen an die holländische Grenze. Für die letzten Jahre lebten sie in Hildesheim, mein Bruder als Kreisphysikus. Knapp 66 starb mein Bruder an Arterienverkalkung des Gehirns, eine Krankheit, die sich langsam vorbereitete und ihm ein klägliches Ende brachte. Aus der Ehe kam ein Sohn, Hans Symanski, der ein tüchtiger Arzt wurde und z.Zt. Regierungsmedizinalrat in Saarbrücken ist.

Hans Symanski, Weihnachten 1926 als Verbindungsstudent

 
Bruder Erich

Nun will ich meines Hauptgespielen, meines jüngsten Bruders Erich gedenken, der mit 12 Jahren plötzlich an Fallsucht erkrankte. Noch heute glaube ich, daß wenn man den an sich kräftigen Jungen für ein Jahr aus der Schule genommen hätte, er hätte geheilt werden können. Aber da war wohl kein vernünftiger Arzt, der ein Machtwort gesprochen hätte, oder die Not der Verhältnisse war zu groß. So wurde der arme Junge bis zur Obersekunda geschoben, machte das Einjährigenexamen aber nicht und wurde, um ihn in guter Luft zu beschäftigen, in eine Gärtnerei in die Lehre gegeben. Die Arbeit war für den durch Brom erschlafften Körper viel zu schwer und der Ärmste hat sich recht durchgequält. Doch hatte auch er so seine kleinen Freuden, und gute Menschen nahmen sich seiner an. So die Familie eines Bankdirektors Blume und ein Studiengenosse meines Bruders Walter, der spätere Professor Dubois-Reymond, der mit Bruder Erich für damalige Zeit romantische Neigungen teilte. Er wanderte mit ihm durch die Wälder und auf die Nehrung, wo sie zelteten und abkochten und damals deswegen für arge Eigenbrötler gehalten wurden. Vielleicht sprach bei Dubois-Reymond auch ärztliches Interesse an dem Kranken mit. Jedenfalls bargen diese Ausflüge mit Dubois-Reymond für meinen kranken Bruder glücklichste Stunden, ihm, dem sonstige Freuden der Jugend versagt waren. Mit 25 Jahren erkrankte mein Bruder Erich an Leberatrophie und starb innerhalb einer Woche in Besinnungslosigkeit.

Bruder Erich und Gledes waren die Hauptgespielen von Lise Fabian und mir. Für lange Zeit brachte die Erzählung des Robinson und der letzten Mohikaner eine Vorliebe für das Indianerspiel. Wir bewaffneten uns mit aus Holz geschnitzten Dolchen, mit denen wir wütende Kämpfe ausfochten, gedeckt hinter Pappschilden. Es ging durchaus unsanft zu und setzte auch manchmal Tränen. Es ging soweit, daß wir unter einem Treppenverschlag unser Wigwam hatten, ja Erich entwarf sogar ein eigenes Wörterbuch und eine eigene Sprache mußte erlernt werden. Das war wohl das Spiel eines Jahres. Dann folgte die Ritterzeit. Erich, nun schon älter, und Schulkameraden waren die Ritter und Lise und ich mußten als Knappen fungieren. Ich besinne mich noch dunkel auf ein Lied, das wir sangen, wenn wir die Ritter bedienten. Es fing an (Lise fing an): "Wir sind die Knappen der Marienburg und bringen Kaffee (ich einfallend) und Semmel noch dazu." (Melodie nach einem bekannten Lied).



Heirat mit Martin Sembritzki
 
Martin Sembritzki,
links als Student im Wintersemester 1893/1894,
Mitte wohl in Königsberg um 1910, rechts in Berlin wohl um 1925/1930

Ich ging als letzte aus dem Elternhaus als ich Euern Vater, den ältesten Sohn Martin des Civilingenieurs Rudolf Sembritzki und seiner Frau Luise geb. Krieger heiratete, im Jahr 1900 am 29. Juni. Es war meinen Eltern eine große Freude, daß wir in Königsberg blieben. Euer Vater bekam gleich nach dem Assessorexamen eine Hilfsrichterstelle in Königsberg und nach einem Jahr den Posten eines Stadtrats in Königsberg. So konnten meine Eltern doch Großelternfreuden aus nächster Nähe erleben. Meine Mutter hat allerdings nur Eva und Vera gekannt. Arnold wurde erst nach ihrem Tode geboren.
                                               
Tod der Eltern Symanski

Meine Mutter starb im Jahr 1905 nach 1/2-jähriger Krankheit, ohne zu erfahren, was ihr fehlte. Sie litt nicht zusehr und starb in Besinnungslosigkeit. Es war ein Krebsleiden.
 
Ottilie Symanski geb. Krebs in Königsberg um 1902. - Johannes Symanski als Maler, in Königsberg um 1903.

Mein Vater überlebte Mutter um 15 Jahre und hatte trotz des Verlustes seiner guten Lebensgefährtin noch ein schönes Alter. Er war ja nicht vereinsamt, da wir am Ort waren und er seines liebenswürdigen Wesens wegen auch viele Freunde hatte. Dazu kam seine Liebe zur Malerei und auch sein Talent, das er erst nach seiner Pensionierung auszuüben begann und das ihm viel Freuden brachte.

Wenn er, sich ein Plaid malerisch um die Schultern geschlungen, mit Malkasten und Feldstuhl auf die Wanderschaft machte, fiel er sicher auf und man kannte ihn auch in der weiteren Nachbarschaft bald. In den ersten Jahren wanderte meine Mutter treulich mit, bis ihr sich allmählich meldendes Leiden diesen Ausflügen ein Ziel setzte.

Eine treue Hausgehilfin versorgte unsern Vater nach Mutters Tod gut, und wir waren viel mit ihm zusammen. Die Kinder liebten ihren stets teilnehmenden Großvater sehr.

(Einige Aquarelle von Johannes Symanski sind am Ende dieses Aufsatzes abgebildet.)
 

Johannes Symanski mit Enkelin Hilde Groppler um 1909


Martin Sembritzki

 
Helene Symanski und Martin Sembritzki als Verlobte im Sommer 1899

Ich kannte EuernVater zwei Jahre, ehe ich mich mit ihm verlobte. Er erschien mir von Anbeginn als ungewöhnlich kluger und interessanter Mann. Sein Ruf bei der Behörde war sehr gut und ich war sehr stolz, als mir als Braut der Präsident seiner Behörde auf der Straße zu meiner Wahl gratulierte mit den Worten: "Nach menschlicher Berechnung und wenn er etwas Glück hat, wird Ihr Verlobter Großes erreichen." Nun, alle Blütenträume sind ja nicht gereift.

                                       
  zum Lebenslauf von Martin Sembritzki

Familie Sembritzki

Die Eltern Eures Vaters wohnten in der hinteren Vorstadt (südlich des Pregels) in einem alten Hause mit dunklem, unschönem Aufgang, und ich muß gestehen, daß mir etwas unbehaglich zumute war beim ersten Besuch. Es war alles so düster, so ganz anders wie in meinem Elternhause. Es lag wohl auch daran, daß ein Haushalt doch der Widerspiegel des Lebens derdarin Wohnenden ist, und es war schon eine traurige Tatsache, daß meine Schwiegereltern nicht glücklich miteinander lebten, und daß auch die Söhne naturgemäß darunter litten.


 
Die Familie des Schiffbau-Ingenieurs Rudolf Sembritzki und seiner Frau Louise wohnte im Stadtteil südlich des Pregels, Hintere Vorstadt 8.
Wahrscheinlich zeigt dieses Foto ihr Wohnhaus.
Das Foto ist von
Gerhard Lemmel beschriftet: "Haus der alten Omama - im 2. und 3. Stock - Familie Sembritzki".
Die "alte Omama" muss Louise Sembritzki sein, die nach dem Tod ihres Mannes Rudolf 1904 hier noch lange lebte,
bis sie 1924 bei ihrem Sohn Martin in Berlin starb.
(Auf dem Foto fügte Gerhard Lemmel hinzu "Hammerweg 4", was ich für einen Irrtum halte, und zwar eine Verwechslung mit dem Haus "Hammerweg 2", wo die Familie von Martin Sembritzki von 1902 bis 1913 lebte. - HDL)


Kurt Sembritzki
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Kurt Sembritzki
1 als Student in Berlin zu Besuch in Königsberg -  2 1899 als Dr.phil., 25 Jahre alt - 
3  Mitte 1933 in Ahrensböck kurz nach der Hochzeit mit Ursula geb. Koch verw. Reichert –
4  wohl um 1935/1940, in Hildesheim  - 5  1942.

Mein Schwager Kurt ging gleich nach dem Abiturium zum Studium nach Berlin und entging auf diese Weise den unerquicklichen häuslichen Verhältnissen. Er heiratete später in Arnstadt, wo er Direktor einer Gummifabrik war, die Tochter eines dort lebenden begüterten Kaufmanns, Hanna Witt, mit der er drei Söhne hatte. Der Älteste starb mit einem Jahr an der Bräune zur Zeit als die Zwillinge geboren wurden. Hanna Witt starb etwa Mitte 40 Jahre alt an einem Krebsleiden und mein Schwager heiratete nach einigen Jahren zum zweiten Mal Hilde Reichert geb. Koch, Tochter eines Justizrats aus Hildesheim.

[Einfügung: Einige Monate nach der Niederschrift dieser Erinnerungen war Helene bei der Hochzeit von Kurts Sohn Ulrich Sembritzki, am 28.5.1938 in Ahrensbök, mit Ursula Reichert, einer Tochter der soeben erwähnten Hilde Reichert geb. Koch. Wie das Foto zeigt, erfolgte die Hochzeit mit Uniform und Hakenkreuzfahne.
 
28.5.1938 in Ahrensbök: Hochzeit Ulrich Sembritzki und Ursula Reichert.
Hinter dem Bräutigam von rechts: Helene Sembritzki geb. Symanski, Ihre Tochter Eva Gehrcke, dann ihr Mann Pastor Karl-Otto Gehrcke, dann der Bräutigams-Vater Kurt Sembritzki. Links im Bild wohl Kurts zweite Frau Hilde Reichert geb. Koch, gleichzeitig Brautmutter. – Die anderen Personen sind unbekannt.]


Euer Vater hat all die schweren, sich mehr und mehr zuspitzenden Zeiten in seinem Elternhause mit durchlebt und durchlitten, und er war meiner Schwiegermutter ein Stütze, ohne die sie, meiner Meinung nach, zugrunde gegangen wäre.

Mein Schwiegervater war ein kleiner, schlanker, sich sehr gerade haltender Mann, mit einem markanten, eckigen Schädel voll grauer Locken, mit hellblauen, hinter einer Brille scharf blickenden Augen und mit strengem, schmallippigen Mund über eckigem Kinn, das eingerahmt wurde von den grauen Koteletten. Er hatte eine sehr korrekte Art, sich auszudrücken, war aber in seinen Ausführungen so langatmig, daß es mich zur Verzweiflung brachte, und ich vergaß den Anfang bis er zum Ende kam. Kurz, er blieb mir fern, obwohl er sich auf seine Art sicher bemühte, nett mit mir zu sein, aber seine sarkastische Art hielt jedes Vertrautsein fern. Nicht zum wenigsten auch mein Wissen um die unglückliche Ehe, die zum größeren Teil fraglos seine Schuld war, denn das Laster des Trinkens kann eine Frau schon hart machen und nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich vom Mann trennen. Die Verhältnisse spitzten sich so zu, daß Euer Vater schließlich ganz scharf eingreifen mußte, das Vermögen zwangsweise mit Beschlag belegte, um seine Mutter sicherzustellen. Abgesehen von dem Ekel, den meine Schwiegermutter vor ihrem Mann haben mußte, war es auch die Scham, die sie mehr und mehr von ihm trennte, denn man kannte sein Laster allgemein und er mußte deshalb auch vorzeitig seinen Abschied nehmen. Er war Civilingenieur beim Dampfkesselrevisionsverein in Königsberg. Es war eine gut bezahlte Stellung, die mit viel Dienstreisen verbunden war, auch ins Ausland, besonders Rußland, mit klingendem Erfolg, und wenn mein Schwiegervater das Geld zusammengehalten hätte, hätte er ein reicher Mann sein können.

Immerhin rettete Euer Vater so viel, daß meine Schwiegermutter nach dem Tode des Mannes von den Zinsen des Vermögens bescheiden aber auskömmlich leben konnte bis der Krieg und Inflation fast alles verzehrte und sie gezwungen war, ihren Lebensabend bei uns zu verbringen.

Ich weiß, daß ihr diese Abhängigkeit sehr schwer wurde, obwohl wir durchaus gut miteinander standen, und es wäre besser gewesen, wenn Vater und Onkel Kurt ihr lieber die bescheidenste Selbständigkeit gewährt hätten.


Schwiegermutter Luise Sembritzki geb. Krieger

Meine Schwiegermutter stammte wie mein Schwiegervater aus kleinen Verhältnissen. Meine Schwiegermutter war die Tochter eines Bäckermeisters Krieger aus Pillau. Es war ein Großbetrieb zur Herstellung von Schiffszwieback für die aus dem Hafen fahrenden Schiffe. Sie hatte zwei ältere Schwestern und zwei Brüder. Letztere wurden beide Seeleute und sind verschollen.

Die ältere Schwester heiratete einen Lehrer und die jüngere Schwester einen Schiffskapitän. Meine Schwiegermutter machte pekuniär die beste Partie. Vor ihrer Ehe lebte sie mit ihrer verwitweten Mutter in Danzig, wo sie in einem Atelier für Damenputz arbeitete und mit dem Inhaberehepaar befreundet war. Wie sie später ihren Mann kennen lernte, weiß ich nicht. Mit ihrer Schwiegermutter hatte sie Schwierigkeiten, da sie zwar ein hübsches Mädchen war, aber arm wie eine Kirchenmaus. Der Vater meiner Schwiegermutter entstammte einer aus Salzburg eingewanderten Familie, während ihre Mutter und Großmutter mütterlicherseits französischer Herkunft waren. Meine Schwiegermutter war immer gut zu mir und half mir viel mit Schneidern für die Kinder, sodaß meine Mutter, die nicht so geschickte Hände hatte, oft eifersüchtig war.

(Anmerkung des Enkels Hans-Dietrich Lemmel: Nachforschungen ergaben, dass die angebliche Herkunft aus Salzburg und Frankreich nicht richtig ist. Onkel Hans Symanski in Saarbrücken meinte hierzu, dass solche Gerüchte erfunden wurden, um die ärmlichen Verhältnisse der Familie zu bemänteln.)


Durch ihr unglückliches eheliches Verhältnis war meine Schwiegermutter etwa menschenscheu geworden und behandelte selbst ihre besten Freunde oft launisch. Ein großes Mißtrauen lag in ihr, sodaß sie an aufrichtige Liebenswürdigkeit ihr gegenüber nie recht glaubte. Eben dies Mißtrauen erschwerte später sehr ihr Zusammenleben mit uns. Ich war oft recht traurig, wenn ich dachte, wie schön solch Zusammenleben hätte sein können, wenn Schwiegermutter mehr Zutrauen zu uns gehabt hätte. Sie zog sich allmählich immer mehr in sich zurück und wartete auf den Tod als Erlöser von einem ihr unnütz erscheinenden Leben. Es sprach da natürlich auch das körperliche Befinden mit, das zunehmend schlechter wurde. Unterleibskrebs brachte ihr Ende wie bei meiner Mutter. Sie litt keine Schmerzen, aber die Geschwulst konnte bei ihrem hohen Alter nicht mehr operiert werden und verzehrte allmählich ihre Kräfte.

Sie war eine gute, stets opferbereite Mutter und Großmutter. Erst wenn man selbst zu dieser Würde gekommen ist, erkennt man, daß man ihre Kräfte gewiß oft überschätzt hat und für natürlich nahm, was weit über ihre Kräfte ging. Schon wenn sie Euch für die Ferien zu sich nahm, doch meist ohne auskömmliche Bedienung. Sie tat es ja so gern, aber es mag ihr oft recht schwer geworden sein, und es hat sie gewiß erbittert, wenn man alles so selbstverständlich, wenn auch dankbar hinnahm. Ja, es gibt immer etwas zu bereuen, wenn sich zwei Augen schließen. Das habe ich mehr als einmal empfunden, und es wird wohl jedem so ergehen. Man ist eben ein Mensch mit menschlichen Schwächen.
 
"Die alte Omama aus Königsberg", Dr.med. Walter Symanski und seine Frau Käte geb. Bartsch.
Bei der Holzmühle in Osterwald bei Hildesheim.
(Beschriftung des Fotos von Gerhard Lemmel) - (Um 1920?)
"Die alte Omama" muss Luise Sembritzki geb. Krieger sein, die Witwe von Rudolf Sembritzki. Sie starb 1924. (HDL)

Schwiegervater Rudolf Sembritzki

Mein Schwiegervater stammte aus einer Königsberger Familie. Sein Vater, der früh starb, nehme ich an, denn ich hörte immer nur von seiner Mutter, besaß ein Haus in der Kneiphöfischen Langgasse, dicht an der Krämerbrücke, und ein Schuhgeschäft, das darin geführt wurde.

Außer meinem Schwiegervater waren noch drei Söhne. Der älteste, John, wurde Schauspieler, glaube ich, und ist verschollen. Dann war Max Sembritzki, der Deichhauptmann aus Prerow, Vater des Hans Otto Sembritzki, der lange in Amerika lebte, ein reicher Mann, der durch den großen Krieg und Inflation alles verlor. Der dritte Sohn, Ernst Sembritzki, war Architekt in Berlin und obwohl nicht der Begabteste der Brüder doch der, der durch seinen normalen Lebenswandel neben Tüchtigkeit am solidesten fundiert war. Dann gab es noch eine Schwester Charlotte, die einen Fehltritt beging und eine uneheliche Tochter hatte und in der Familie totgeschwiegen wurde. Nur mein Schwiegervater schien sich um sie zu kümmern. Meine Schwiegermutter sprach von dieser Schwägerin nur mit bitterem Hass. Persönlich gekannt habe ich flüchtig den Prerower Onkel, der ein Original war. Er war ein eminent kluger Mensch, durch seine Schwäche für den Alkohol aber gehemmt. Bei seinem Besuch sprach er in allen Zungen und war höchst originell und amüsant.

Onkel Ernst Sembritzki war ein sehr gut aussehender, jovialer und gepflegter Mann, der seinen Neffen stets ein guter Onkel war und zu mir stets freundlich und galant. Seine Frau war ein winziges, zierliches Püppchen, viel kränklich und sehr verwöhnt. Die Frauen der anderen Sembritzkis habe ich nie kennen gelernt. Nach Bericht meiner Schwiegermutter müssen sie sehr einfacher Art gewesen sein.

Mein Schwiegervater zog nach seiner Pensionierung mit Schwiegermutter in einen Vorort Königsbergs und fand Beschäftigung und Freude in einem kleinen Gärtchen, das er musterhaft hielt und in dem er namentlich herrliche Rosen zog. Unter diesen Rosen liegend fand man ihn eines Tages tot und friedlich lächelnd. Sein seit Jahren durch die Exzesse erkranktes Herz hatte ihm dies schmerzlose jähe Ende gebracht. Er hat von seinen Enkeln nur Eva gekannt, die zu seinem Vergnügen öfters im Gärtchen neben ihm ihn nachahmend herumpusselte und ebenso eifrig sein Stöhnen bei der gebückten Arbeit, was ihn sehr amüsierte.


Sommerfrische in Rauschen

Landschaft bei Rauschen 1907, mit dem Rauschener Kirchturm  
[Ausschnitt aus einem Aquarell von Helenes Vater Johannes Symanski]


Mit zu den schönsten Erinnerungen gehören die alljährlichen Sommerfrischen meiner Kinder- und Mädchenzeit, die wir meist im Ostseebad Rauschen verlebten. So eine Sommerfrische mit Wirtschaft, wie es damals üblich war, war für die Hausfrau und Mutter garnicht so einfach. Man mußte mit Sack und Pack, so ziemlich mit ganzer Wirtschaft hinausziehen in die ganz primitiven Fischerwohnungen, ohne elektrisches Licht, die Küchen ohne Gas, Toiletten neben den Ställen draußen. Aber man war ja auch in der Stadt in vielem noch nicht so verwöhnt wie heute. Meine erste Wohnung 1900 hatte zwar schon Gasbeleuchtung, aber in der Wohnung meiner Eltern wurden noch brav Petroleumlampen gebrannt. Kanalisation wurde in Königsberg erst zwischen 1890 und 1900 eingeführt. Vorher kam es vor, daß wenn man nächtlicherweise vom Ball in Begleitung von Mutter oder Eltern und irgend einem Verehrer heimkehrte, daß vor den Häusern in soldatischer Reihe die übel duftenden "Eimer der Nacht" standen, bereit zur Abholung oder Entleerung, was die früher zarter besaitete Jugend recht peinlich berührte.

Meine früheste Erinnerung führt mich nach Kleinteich in Rauschen, zum "kleinen Muschlin". Da gab es noch eine sehr alte Großmutter, genannt die "Großmutter mit dem Eiterauge", eine sehr unappetitliche Angelegenheit, ein Gebrechen, das ziemlich unverhüllt zur Schau getragen wurde, für mich aber fraglos sehr interessant, sonst hätte ich es nicht behalten. Da waren die kleinen, sehr primitiv möblierten Zimmer, eine dunkle Küche mit rußigem Feuerherd, der damals meines Wissens noch mit Torf geheizt wurde. Das Mädchen schlief damals in dieser Küche in schmalem Spannbett.

Um nach Rauschen zu gelangen, wurde eine sogenannte Journalière gemietet. Hinten kam das Gepäck herauf, vorn waren zwei Böcke mit Reisenden. Bei der großen Familie wurde ja viel gebraucht, sodaß oft daneben noch ein Leiterwagen gebraucht wurde. Es kamen die Betten und die Kisten mit Lebensmitteln herauf und Wannen und sonstiger Hausrat. Von Lebensmitteln kamen in der Hauptsache Kolonialwaren in Frage. Mit dem Leiterwagen fuhren die Mädchen mit, besonders wenn sich zwei befreundete Familien zusammentaten, z.B. Fabians und wir. So eine Fahrt auf dem Leiterwagen kann bei schönem Wetter sehr amüsant sein, aber bei schlechtem Wetter, nur durch einen Plan geschützt, doch recht fragwürdig. In jedem Fall fühlt man seine Knochen am Ende der Reise. Überhaupt muß man sich solche Fahrt nicht so einfach vorstellen, denn es gab damals meines Wissens nur Chaussee bis zum Wasserwerk, eine halbe Stunde vor der Stadt, dann begann der Landweg. In Dragehnen oder Tannenkrug wurde Mittagsstation gemacht, denn die Reise dauerte fast einen ganzen Tag und die Pferde, die zum Schluß noch lange durch tiefen Sand gehen mußten, sollten pausieren. Bei St.Lorenz begann der fliegende Sand und die "Großen" stiegen aus, um es den Pferden zu erleichtern, besonders bei der Einfahrt in Rauschen war es schlimm und ich besinne mich, daß die Pferde laut ächzten von der Anstrengung und eines fiel hin und Lise und ich fingen vor Angst laut zu weinen an, und die "Großen" hoben uns vom Wagen herunter.

Was für eine selige Zeit war es dort! Rauschen noch einsam, nur einige Königsberger Familien, alte Beamtenfamilien meist, bevölkerten es in den ersten Jahren, alle mehr oder weniger miteinander befreundet.

Der Weg zur See führte durch fliegenden weißen Sand, durch rotblühende Heide; Birken schwenkten im Winde ihre zarten Zweige, Kadiksträucher hoben ihre stachligen Häupter mit den blaubereiften Beeren. Mir scheint, daß es damals viel mehr Schmetterlinge gab, die in allen Arten und Farben in der Sonne flatterten und summende Bienenvölker sammelten den Heidehonig ein. Und Pilze gab es damals! Ganze Heerscharen! Aus dem puren Sand hoben die Steinpilze ihre braunen Häupter und gelbe Pfifferlingsfamilien duckten sich im grünen Moos. Kurz, es war ein Idyll, aber für unsere Mütter war es garnicht so einfach, unter den primitiven Verhältnissen zu wirtschaften, obwohl man auch in der Stadt nicht so verwöhnt war wie heute. (Doch auch damals gab es schon Dienstbotenärger. Die sonst treuen und willigen Mädchen langweilten sich dort ohne ihre Freunde, zumal der Sinn für die schöne Natur oft fehlte, und ärgerten die Hausfrau durch unwilliges Wesen, bis der guten Frau die Galle überlief und sie das Mädel ordentlich herunterputzte. Das half damals noch.)

Lise Fabian und ich lebten indes unser eigenes Leben in den moosigen Mulden des "Zauberwaldes" oder auf den Sandhügeln des "toten Meeres", eine unbebaute Sandwüste, die nur durch Sandhügel belebt wurde, auf denen kleine Birken und Wacholder wuchsen und deren Boden bedeckt war mit grauem Moos, dazwischen unzählige kleine, blaue Strandskabiosen blühten. Da lebten, für mich wenigstens, auch die Zwerglein, die mit Preißelbeeren Fangball spielten und aus den Erikablüten Tau tranken – und Lise glaubte mir alles aufs Wort.

In späteren Jahren fanden sich dann Freunde und schließlich Verehrer dazu. Bruno Engelbrecht, unser Freund und Prügelknabe, mit dem wir manchen Kampf ausfochten, der garnicht immer spielerisch war. Bis dann die Röcke länger wurden, die ersten Studententänze kamen, und man durchaus Wert darauf legte, die meisten Sträuße beim Kotillon zu bekommen. Sträuße, die die jungen Mädchen selbst wanden aus wilden Blumen oder Blumen aus dem Bauerngarten der alten Frau Minuth, die eine Persönlichkeit des Dorfes darstellte, und uns Kinder manchmal in ihren Garten in die Stachelbeeren schickte, was wir uns gern, auch schon mit längeren Röcken, gefallen ließen.

Der Zauber dieser Rauschener Sommerwochen sollte nie vergehen, denn er hat schon über ein Menschenalter gereicht. Aber wenn ich jetzt als alte Frau die rote Heide dort vergebens suche, und im Dorf den zuwachsenden See sehe und wie das romantische Waschhäus'chen einem Wasserwerk gewichen ist, dann scheint es mir doch ein versunkenes Glück zu sein, und ich wundere mich fast, mit wieviel weniger man heute dort beglückt ist, in der Erinnerng an das, was einst war. Ja, das unwandel-bare Meer scheint mir sogar anders zu rauschen und die Sonne weniger hell zu scheinen.


Rückblick

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, auf meine Kinder- und Jungmädchenzeit und mein Frauenleben vergleichsweise zu heutigen Schicksalen, so muß ich schon sagen, daß es trotz mancher kummervollen Zeiten, offenen und verschlossenen, doch ruhige Zeiten waren, zum mindesten, was die äußeren Verhältnisse und Begebnisse anbetrifft. Es war selbstverständlich, daß man sein Auskommen hatte, sogar mehr als das, es war selbstverständlich fast, daß man sich verlobte und verheiratete. Es gab wenig "alte Jungfern", allerdings gibt es die heute in gewissem Sinn überhaupt nicht mehr. Ebenso selbstverständlich war es, daß der Jüngling nach der Gymnasial- oder Spielzeit seine Ausbildung hatte, sei es welcher Art es sei, und ebenso selbstverständlich, daß er ins Brot kam. Die jungen Haushal-tungen bürgerlicher Kreise hatten selbstverständlich auskömmliche Bedienung und die Hausfrauen konnten oft Liebhabereien leben, mehr oder weniger.

Das ging bis zum Weltkriege, dann kam der große Wandel, der alle Verhältnisse für die Dauer veränderte. Die Zeitspanne von 1870/71 bis 1914 war danach eben ungewöhnlich, vielleicht sogar ungesund, denn der Kampf erst stählt die Kräfte und entwickelt sie.

Wie wird es meinen Enkeln ergehen? Nun, ich hoffe, sie werden ihren Mann stehn, und wir, die wir dahin sinken hoffen doch: "Und neues Leben blüht aus den Ruinen."

So schließe ich in den letzten Stunden der Jahreswende 1937/1938 diese Erinnerungsblätter.

Die Glocken läuten das neue Jahr ein.

                                                                Helene Sembritzki
  


Teil 3: Nachtrag


von Hans-Dietrich Lemmel

Im Jahre 2014 erhielt ich einen Stammbucheintrag mit einem Schiller-Text
in der Handschrift von Helenes Großvater Carl Wilhelm Symanski.


Nun  noch einige Fotos aus dem Besitz von Helenes Schwägerin Käte Symanski geborene Bartsch, die in Hildesheim lebte.
4 5
Walter Symanski,4: Winter 1903/04 in Königsberg, 5: November 1904 in Hagenau im Elsaß
 
Walter Symanski mit Frau Käte und Sohn Hans, 1906 in Hagenau
 
Tante Kätes Vater, der Kaufmann Bartsch.
März 1915 sein Arbeitszimmer in Gostyn, Provinz Posen, 70 km südlich von Posen.

Medizinalrat Dr. Walter Symanski, 1926 in Hildesheim



Fotos zu Helenes älterer Schwester Margarete (Grete) Symanski verheiratete Groppler.
1  2
3
1 Johannes Symanski mit seiner Enkelin Hilde Groppler 1907 auf der Pfaueninsel bei Potsdam.
2 Johannes Symanski, mit seinem Skizzenbuch unter dem Arm, und sein Schwiegersohn, der Apotheker Dr. Robert Groppler
etwa 1909 auf der Brücke in Heringsdorf. Rechts sieht man ein Segel der Kreuzeryacht "Atlantis".
3 Gretchen Groppler 1910 auf dem Markusplatz in Venedig.
   
Im Garten der Groppler-Villa in Wiesbaden-Biebrich "zur Zeit der Rosen und Lilien". Links Robert Groppler, rechts
wohl Frau und Tochter.
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Zur Jahreswende 1937/1938, als Großmutter Helene Sembritzki, genannt "Mutter Lenchen", ihre Erinnerungen schrieb, lebte sie als Witwe in Berlin. Für uns war sie die "Omama Berlin", während die Lemmel-Großmutter die "Omama Königsberg" war. Eine dritte Großmutter war uns die Pfarrerswitwe Hildegard Zimmer, Helenes ältere Schwester. Alle drei besuchten uns in den Kriegsjahren gerne in Thorn und gelangten nach Ausbombung und Flucht zusammen mit uns in die Lüneburger Heide nach Isenhagen in das Gehrckesche Pfarrhaus.

Ihre Erinnerungen konzentrieren sich hauptsächlich auf ihre Jugendzeit, und es ist schade, dass spätere Ereignisse ganz fehlen. So möchte ich hier etwas nachtragen.

Eine Jugendfreundin aus Königsberg war die etwa gleich alte spätere Dichterin Agnes Miegel, mit der die Freundschaft auch von Berlin aus fortbestand. Als in Königsberg am 9.3.1944 der 65. Geburtstag von Agnes Miegel begangen wurde, schickte unsere Omama ihre Tochter Vera Lemmel und den ältesten Enkel Ernst-Martin vor, so dass der knapp 9-jährige Ernst-Martin der Dichterin einen Blumenstrauß überreichen durfte - ein eindrucksvolles Erlebnis für Ernst-Martin, an das er sich noch nach 60 Jahren lebhaft erinnerte, so dass er noch im Jahre 2002 den russischen Touristenführer zu dessen Überraschung zielsicher zum Haus von Agnes Miegel führen konnte. Nach der Flucht gab es zwischen unserer Omama in Isenhagen und Agnes Miegel, die über die Ostsee nach Dänemark geflüchtet und schließlich in Bad Nenndorf untergekommen war, einen Briefwechsel in Erinnerung an gemeinsame Jugenderlebnisse. Ich war damals etwa 10 Jahre alt und war von diesem Kontakt mit einer echten Dichterin beeindruckt.

Agnes Miegel 
[Königsberger Bürgerbrief Nr.64, 2005; 67, 2006]
Zwei originale Miegelbriefe aus dem Nachlass von Eva Gehrcke in Göttingen wurden 2020 an das Miegel-Archiv gestiftet, worauf von dort ein Foto kam, das Helene Symanski (links) und Agnes Miegel (dritte von rechts) als Teilnehmer eines Malkurses 1897 in Königsberg zeigt.



Das Haus Hammerweg 2
Martin Sembritzki, der bald nach seiner Hochzeit 1900 in Königsberg Stadtrat geworden war, baute sich eine Villa in Amalienau, einem westlichen Vorort Königsbergs, der zu dieser Zeit sich rasch entwickelte, mit der Adresse Hammerweg 2. 1904 ist im Taufschein der zweiten Tochter Vera bereits diese Adresse angegeben.

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Die Töchter Vera und Eva 1906

1907 wurde in Königsberg ein Atelierfoto der Töchter Vera und Eva als Postkarte angefertigt. Diese verwendete Helene für einen Gruß an ihre Schwägerin Käthe in Metz in Lothringen, wo nun ihr Mann, Dr.Walter Symanski, als Arzt tätig war. Abgestempelt in Rauschen (Samland) am 12.8.1907. "Liebe Käthe, Dir und Walter herzliche Grüße aus dem samländischen Paradies! Martin ist zu einem Kongreß in London und allen größeren Städten Englands von Amtswegen. Das schlechte Wetter läßt sich auf den Sandwegen gut vertragen. Vera ist (auf dem Foto) brillant, wie sie leibt und lebt, Eva leider verschwommen. Nochmals Grüße von Lene und den Kindern." Zu dieser Zeit war sie schwanger. Am 12.11.1907 wurde der Sohn Arnold geboren.

Ein schönes Familienbild wurde im Garten des Hauses Hammerweg 2 aufgenommen, um 1910.

Stadtrat Martin Sembritzki mit seiner Familie in Königsberg
in seinem Hause Hammerweg 2, um 1910.
Seine Frau Helene geb. Symanski und die Kinder Eva (rechts), Vera und Arnold.
Unten im Garten wohl um 1912.
 
(Ausschnitt aus vorigem Bild)

Die 3 Kinder Sembritzki (dahinter ein Nachbarskind)

Die Kinder um 1912. (Photografisches Atelier Gebr. Barasch, Königsberg i/Pr.)

Weitere Kinderfotos

Vera und Arnold (etwa 1909?), angeblich in der Harbrückerstr. in Königsberg (unbekannt, wer dort wohnte)
(etwa 1911?)
(etwa 1919?, wohl in Berlin?)
Eva und Vera (wann?)

Es ist sonderbar, dass Großmutter Helene Sembritzki in ihrern Erinnerungen nichts von dem etwa um 1902 erfolgten Einzug in das Haus am Hammerweg erwähnte, in dem die drei Kinder aufwuchsen, bis zum Umzug nach Berlin 1913. Hier in Königsberg absolvierten die Kinder Eva, Vera, Arnold ihre ersten Schuljahre, aber schon 1913 zog die Familie nach Berlin, wo der Vater Stadtsyndikus der noch selbständigen Stadt Charlottenburg wurde.

Als im Jahre 1920 die ebenfalls noch unabhängigen Gemeinden Lankwitz, Lichterfelde und Steglitz als Bezirk Steglitz zu Berlin kamen, wurde Martin Sembritzki der erste Bezirksbürgermeister. Nach ihm wurde hier 1957 eine Straße benannt.

Er muss beliebt und erfolgreich gewesen sein, und noch 1992 wurde ihm eine Seite in der Heimatzeitung "Der Lichterfelder" gewidmet.

So wurde unsere Großmutter unfreiwillig zur Berlinerin, worüber in den Erinnerungen leider nichts berichtet wird. Über diese Zeit erzählte sie gerne Anekdoten über skurrile Einfälle ihres Mannes. Als stadtbekannte Persönlichkeit liebte er es, an einem freien Tag mit seinen Kindern inkognito einkaufen zu gehen, wobei er einen einfachen Mann mimte und schlechtes Deutsch sprach: "Frollein, geben Se mich mal....", wobei die Kinder keinesfalls lachen durften. Ob ihn dabei eine Verkäuferin auch mal als Bürgermeister erkannte, ist nicht überliefert.

Einige Mittagstisch-Zitate erzählte Omama uns gern und oft. Wenn Großvater kleckerte, sagte er vorwurfsvoll: "Helene, deine Suppe spritzt." Worauf man auf die oft zitierte "Tücke des Objekts" zu sprechen kam. Für seinen Lebensabend stellte er fest: "Lenchen, wenn einer von uns beiden stirbt, zieh ich in eine Kleinstadt." Dazu kam es aber nicht, denn er starb am 1.8.1934 nach längerer Krankheit und bekam ein städtisches Ehrengrab auf dem Lichterfelder Parkfriedhof. So war er glücklicherweise nicht mehr im Amt, als die Nazis an die Macht kamen, mit denen er unweigerlich in Konflikte geraten wäre. Er war am 23.3.1933 krankheitsbedingt von seinem Amt zurückgetreten.
 
Der Grabstein von Martin Sembritzki
Der Sohn Arnold, 1933 zum Dr.iur. promoviert, heiratete 1935 die angehende Theologin Inge Karding, die in der evangelischen Kirche den Streit für oder gegen den Nationalsozialismus aktiv miterlebt hatte. Ein Zufallsfund in einer Zeitung vom Februar 2006 zeigt ein Foto von August 1934 mit Inge Karding (links) und Dietrich Bonhoeffer (2.v.rechts) bei einer theologischen Jugendkonferenz in Dänemark. Auf dieser ökumenischen Konferenz des Weltbundes der Kirchen kam es zu heftigen Rededuellen zwischen Bonhoeffer, der die deutsche "Bekennende Kiche" vertrat, und Vertretern der offiziellen Hitler-treuen evangelischen Reichskirche. In der abschließenden "Entschließung" wurden die Anliegen der Bekennenden Kirche im wesentlichen übernommen, gegen den Protest der Delegation der Reichskirche.
[Renate Wind: Dem Rad in die Speichen fallen. Beltz-Verlag 1990, Taschenbuch Gütersloh 6.Auflage 2009, S.117]


(Korrektur: Fanö liegt nicht in Schweden sondern in Dänemark.)
Um 1990 wurde über Bonhoeffer ein Dokumentarfilm gemacht, zu dem auch Inge befragt wurde. Seit der Film um 2003 herauskam, kann man Inge Sembritzki im Internet als "Filmschauspielerin" finden.
 
In der Nachkriegszeit in Isenhagen, wo wir als Flüchtlinge nichts hatten und es auch nichts zu kaufen gab, kam noch einmal Omamas Maltalent zur Geltung, indem sie für ihre Enkel Kinderbücher abmalte. Davon sind noch zwei erhalten: Der erste Streich von "Max und Moritz" und "Die Heinzelmännchen von Köln". Das waren 1945/1946 die schönsten Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke.
 
Mit ihrer Schwester Hildegard Zimmer lebte sie einige Jahre friedlich bei ihrer Tochter Eva Gehrcke in Isenhagen, bis sie nach schwerem Leiden an Darmkrebs und Alzheimer am 28.4.1949 starb.


weiteres siehe unter 
Das Sembritzki-Haus in Königsberg, Hammerweg 2

Das Essbesteck
Vermutlich zu ihrer Hochzeit 1900 in Königsberg erhielt Helene ein Besteck mit ihren Anfangsbuchstaben HS. Davon ist eine Tortenschaufel noch 2016 bei ihrem Enkel Hans-Dietrich Lemmel in Benützung.


Ein Gedicht
Omama Helene Sembritzki pflegte in schönstem ostpreußisch das Herbstgedicht aufzusagen, das ich (HDL) dann auch bald auswendig konnte. Im Jahre 2024 fand ich es abgedruckt im "Hagen-Lycker Brief" Nr.82, Mai 2024 von der Kreisgemeinschaft www.kreis-lyck.de


Ende
Diese "Erinnerungen" werden ergänzt durch einen Bericht über Helene Sembritzki's Vater Johannes Symanski.


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(Kleine Ergänzungen Sept. 2013)